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Das Ende der kalten Progression ist nicht sinnvoll

Von Jakob Sturn

Gastkommentare
Jakob Sturn ist Ökonom am sozialliberalen Momentum Institut.
© Momentum Institut66

Menschen mit wenig Einkommen profitieren kaum davon. Aber der Staat verliert künftig Handlungsspielraum.


Seit Jahren rufen diverse Interessenvertreter nach der Abschaffung der kalten Progression. Die Bundesregierung kündigt sie nun als Teil des Pakets gegen die Teuerung an. Aber nicht alles, was sich als gewichtige Entlastung präsentieren lässt, ist tatsächlich geeignet, um jene, die die steigenden Preisen am härtesten treffen, zu unterstützen.

Unser Steuersystem basiert auf Steuerstufen: Wer mehr verdient, trägt auch mehr bei. Fällt eine Gehaltserhöhung an, wird ein höherer Steuersatz fällig. An die Inflation angepasst wurden die Steuerstufen bisher nicht. Steigen die Löhne also mit den wachsenden Preisen, fallen dafür höhere Steuern an, obwohl die Reallöhne nicht gestiegen sind - das ist die kalte Progression. Ab 2023 soll sich das ändern. Alle Lohnsteuerstufen, bis auf die höchste, sollen automatisch um zwei Drittel der Inflationsrate steigen. Ebenso an die Inflation angepasst werden die meisten Steuerabsetzbeträge.

Allerdings: Von der automatischen Abgeltung der kalten Progression profitiert die Mittel- und Oberschicht wesentlich stärker als die Ärmsten oder die untere Mittelschicht. Ein durchschnittlicher Haushalt im ärmsten Einkommensfünftel bekommt für das ganze nächste Jahr rund 60 Euro pro Kopf mehr. Haushalte mit den höchsten Einkommen erhalten durchschnittlich das Achtfache: rund 470 Euro pro Kopf. Gerade sie können die Teuerung aber viel leichter stemmen. Auch relativ zum Einkommen betrachtet ist die Entlastung für Ärmere am schwächsten, für die obere Mittelschicht am stärksten.

Zahlen wir ohne die Abschaffung der kalten Progression aber nicht jedes Jahr mehr Steuern als eigentlich geplant? Nicht wirklich. Schon bisher wurden die Einnahmen aus der kalten Progression an die Bevölkerung regelmäßig zurückgezahlt - durch Steuerreformen mit niedrigeren Steuersätzen. Zuletzt heuer und 2021 durch die Senkung von Eingangssteuersatz und zweiter Lohnsteuerstufe.

Mit der Automatisierung dieses Prozesses beraubt sich die Regierung aber eines wichtigen Gestaltungsspielraums, auch zur zukünftigen Krisenbewältigung. Die Covid-Krise und nun die Teuerung zeigen: Zur Krisenbewältigung braucht es einen starken Staat, damit die Schwächsten im Land nicht auf der Strecke bleiben. Die Klimakrise ist wohl eine ganz andere Dimension. Mit der automatischen Abgeltung der kalten Progression fehlen dem Staat jährlich 1,5 bis 2 Milliarden Euro. Wer die kalte Progression abschafft, sollte also dringend über eine Gegenfinanzierung nachdenken. Steuern auf Arbeit sind in Österreich bereits hoch. Sie finanzieren auch in normalen Zeiten den größten Teil unseres modernen Sozialstaats. Viel mehr Spielraum gibt es bei den vermögensbezogenen Steuern: Jene auf Vermögen, Erbschaften sowie Grund und Boden. Sie liegen in Österreich deutlich unter dem Durchschnitt der Industrieländer. Hier nachzubessern, schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Struktur der Staatsfinanzierung ruht dann künftig auf zwei Beinen anstatt nur auf einem - nicht nur Arbeit, sondern auch Vermögen. Und mit mehr Einnahmen sichert sie den Sozialstaat in Krisenzeiten nachhaltiger ab.