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Die Flucht aus dem Arbeitsmarkt

Von Jan Kluge

Gastkommentare
Jan Kluge ist Ökonom bei der Agenda Austria. Er forscht in den Bereichen Wirtschaftsstandort und Digitalisierung.
© Hannah Schierholz

Zehntausende offene Stellen können nicht besetzt werden. Die Alterung der Gesellschaft wird das Problem noch verschärfen.


Die Sommerferien haben jetzt in ganz Österreich begonnen. Viele sind auf dem Weg in den ersehnten Urlaub, um Kriegsangst, Corona, der Stromrechnung und der Aussicht auf einen kalten Winter wenigstens für ein paar Tage zu entfliehen. Auch der heimische Tourismus ist guter Dinge und hofft auf die erste störungsfreie Sommersaison seit drei Jahren. Doch in die Vorfreude mischen sich Sorgen: Zwar sind die Gäste zurück, es fehlt aber an Arbeitskräften, um sie zu bewirten. Neun von zehn österreichischen Tourismusbetrieben geben derzeit an, dass sie noch Stellen zu besetzen haben.

Arbeitskräftemangel ist inzwischen in fast allen Branchen ein massives Problem. Mehr als 140.000 offene Stellen gab es Ende Juni; deutlich mehr als im langjährigen Durchschnitt. Jedes dritte Dienstleistungsunternehmen und jeder fünfte Industriebetrieb in Österreich finden derzeit nicht genügend Personal. Haben sich die Beschäftigten etwa nicht nur in den Urlaub, sondern gleich ganz aus dem Arbeitsmarkt verabschiedet?

Der derzeitige Arbeitskräftemangel mag zwar auch krisenbedingte Ursachen haben. Doch das große Problem dahinter ist der demografische Wandel. Das alte Europa wird immer älter - eine Reaktion auf den im vergangenen Jahrhundert erreichten Wohlstand und die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme. Österreich ist da keine Ausnahme: Zwar wächst die Bevölkerung laut Prognosen immer noch. Doch vor allem die älteren Jahrgänge werden immer stärker. Die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren wird dagegen bis 2050 um etwas mehr als 4 Prozent zurückgehen. Das klingt nach wenig, wird aber den Arbeitskräftemangel noch verschärfen. Und es gibt starke re-
gionale Unterschiede. Nur in den Großstädten und im Wiener Umland wird die Erwerbsbevölkerung wachsen; praktisch überall sonst wird sie schrumpfen, in der Steiermark, in Kärnten und im Burgenland sogar um 10 Prozent und mehr.

Natürlich können Prognosen falsch sein. Doch die Berechnungen der Demografen sind in der Regel ernst zu nehmen. Der aktuelle Arbeitskräftemangel dürfte daher erst der Anfang sein. Es wird also darauf ankommen, die verbleibenden Arbeitskräfte bestmöglich zu aktivieren. Funktionierende Rezepte kennen wir aus anderen Staaten: Die Dänen erreichen durch ihre exzellent ausgebaute Kinderbetreuung eine hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen. Die Niederländer halten die Älteren länger in Beschäftigung, indem sie Unternehmen Anreize bieten, in die Gesundheit ihres Personals zu investieren. Grundsätzlich muss auch die hohe Besteuerung des Faktors Arbeit überdacht werden - hier kann Schweden als Vorbild dienen; ebenso beim Pensionsantrittsalter, das laufend an die steigende Lebenserwartung angepasst werden sollte, um die Menschen länger im Erwerbsleben zu halten.

Der demografische Wandel findet statt. Wenn wir uns nicht anpassen, werden bald nur noch wenige Menschen den Wohlstand für alle in Österreich verdienen müssen.