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Vertriebene rasch versorgen

Von Walter Obwexer und Andreas Wimmer

Recht

Je näher der Krisenherd, desto größer die moralische und rechtliche Pflicht zur Hilfeleistung.


Krieg, Verfolgung und Vertreibung verursachen unvorstellbares Leid. Abhängig von der Entfernung des fluchtauslösenden Ereignisses tritt jedoch eine unterschiedliche moralische und auch rechtliche Bewertung der Notwendigkeit zur Hilfestellung auf. Die Kernfrage lautet: Gibt es für Nachbarn eine größere Verpflichtung zu helfen als für weit(er) entfernte Staaten?

In der jüngeren Geschichte hat Österreich bereits vielfach seine Hilfsbereitschaft gegenüber Vertriebenen aus unmittelbaren Nachbarstaaten unter Beweis gestellt - sei es gegenüber Vertriebenen aus Ungarn, Flüchtenden aufgrund des Prager Frühlings oder Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien. Als unmittelbarer Nachbarstaat sah sich Österreich besonders in der Pflicht zu helfen.

Die Genfer Flüchtlingskonvention aus dem Jahr 1951 hatte noch den Zweiten Weltkrieg und den sich verfestigenden Kalten Krieg vor Augen. Nach deren Artikel 31 sollen keine Strafen wegen illegaler Einreise über Flüchtlinge verhängt werden, die "direkt aus einem Gebiet" kommen, wo ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht war (vorausgesetzt, dass sie sich unverzüglich bei den Behörden melden und gute Gründe für ihre illegale Einreise oder Anwesenheit vorbringen).

Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine

Es entspricht deshalb der Grundkonzeption der Genfer Flüchtlingskonvention, zwischen Schutzsuchenden aus Nachbarstaaten und weiter entfernten Staaten zu differenzieren. Auch die moralische Pflicht zur Hilfe nimmt zu, je näher eine Krisenregion liegt. Nichts bringt dies besser zum Ausdruck als die vor dem Hintergrund des Balkankrieges 1991 gegründete und bis heute bestehende ORF-Initiative "Nachbar in Not".

Besonders deutlich ist dies aktuell in Polen zu erkennen, wo die politische und gesellschaftliche Bereitschaft, Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine Schutz und Hilfe zu bieten, ungleich höher ist, als dies bei der Migrationswelle aus dem Nahen Osten im Jahr 2015 der Fall war.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Diese Erwägungen bedeuten nicht, dass ein Staat sich der Hilfe für Flüchtlinge aus weiter entfernten Regionen verschließen kann oder soll. Doch legt die Genfer Flüchtlingskonvention jenen Staaten eine stärkere Verpflichtung auf, die sich in der Region befinden und von den Flüchtlingen unmittelbar erreicht werden können. Anders gewendet: Die Flüchtlingskonvention hat nicht den Zweck, Flüchtlingen ein (globales) Wahlrecht des Aufnahmestaats einzuräumen.

An dieser Grundkonzeption hat sich auch die Europäische Union orientiert. Die sogenannte "Massenzustrom-Richtlinie" (RL 2001/55/EG) aus dem Jahr 2001 ist geprägt von der Situation im ehemaligen Jugoslawien und den zahlreichen Menschen, die dieses Land als Flüchtende verlassen mussten. Gestützt auf diese Richtlinie hat der Rat der EU am 4. März 2022 aufgrund des Krieges in der Ukraine erstmals das Bestehen eines Massenzustroms von Vertriebenen festgestellt und auf dieser Basis die Erteilung von vorübergehendem Schutz für Vertriebene ermöglicht. So soll eine rasche Versorgung und Unterstützung der Vertriebenen aus dem unmittelbaren EU-Nachbarstaat Ukraine sichergestellt werden.

Im Unterschied zu sonstigen Schutzsuchenden ("Asylwerbenden") erfolgt keine Einzelfallbeurteilung, sondern die (bloße) Zugehörigkeit zur Gruppe der Vertriebenen aus der Ukraine ist ausschlaggebend für die Erteilung des vorübergehenden Schutzes in Österreich. Daher liegt eine völlig andere Situation vor, wie sie Europa im Jahr 2015 erlebt hat; eine andere Situation in geografischer, rechtlicher und moralischer Hinsicht.

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