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Der Fukushima-Moment in den Sozialen Netzwerken

Von Peter Reichl

Gastkommentare
Peter Reichl ist Professor für Informatik an der Universität Wien und leitet dort die Forschungsgruppe Cooperative Systems.
© TB

Der Fall Kellermayr führt drastisch vor Augen: Hass im Netz bedarf nur eines Klicks.


Als im März 2011 ein Erdbeben das japanische Fukushima erschütterte, einen Tsunami auslöste und zu einer Kernschmelze im dortigen Atomkraftwerk führte, hatte das nicht nur entsetzliche Folgen für die in der betroffenen Region lebenden Menschen und unseren Planeten. Es führte zudem, wie wir wissen, bei der ausgebildeten Physikerin Angela Merkel zu einem plötzlichen, radikalen Umdenken in Sachen Atomkraft. Und das hatte Konsequenzen, denn binnen eines Vierteljahres realisierte die deutsche Bundesregierung unter der damaligen Kanzlerin den Atomausstieg, der bis heute von der Gesellschaft weitgehend mitgetragen wird.

Die Sozialen Netze in Österreich haben mit dem Suizid der Ärztin Dr. Lisa-Maria Kellermayr ihren Fukushima-Moment erlebt. Es geht hier nicht nur um Hass im Netz, den man verfolgen und damit aus der Welt schaffen könnte (so wichtig natürlich eine strafrechtliche Aufarbeitung sein wird). Es geht auch nicht nur um irgendwelche fanatischen Zeitgenossen, die sich in ihrer Echoblase verrannt haben. Es geht vielmehr darum, dass hier mithilfe Sozialer Netze eine engagierte Ärztin mehr als ein halbes Jahr und vor aller Öffentlichkeit in ihre persönliche Kernschmelze getrieben wurde, mit entsetzlichen Folgen.

Noch immer sind auf ihrer Homepage, nur einen Klick entfernt, die Nachrichten zu lesen, die dieses Erdbeben ausgelöst haben. "Hallo du dummes Stück Scheisse!" beginnt die erste. Auch hier bedurfte es nur eines Klicks, sie abzusenden. Alles im Netz bedarf nur eines Klicks, einer harmlos wirkenden Fingerbewegung, die aber - wie wir nun sehen - sogar den Tod bringen kann. Und das mindeste, was wir tun können, ist, dies einmal ganz explizit einzugestehen und das ewige Mantra, es sei ja "nur das Internet", für immer zu begraben.

An uns als Menschen und als Gesellschaft richtet dieser Suizid tiefe und quälende Fragen, vor denen wir nicht länger davonlaufen können. Eine davon muss lauten: Haben wir die Sozialen Netze, die wir brauchen, und brauchen wir die Sozialen Netze, die wir haben? Oder wäre eine Welt ohne sie sogar eine lebenswertere Welt? Und die Antwort, die wir darauf finden, muss Konsequenzen haben - für uns als Menschen und für uns als Gesellschaft. Denn Frau Dr. Kellermayr ist ja beileibe nicht der einzige Fall - ihr Tod jedoch ist ein Fanal.

Ich bin Informatiker, aber noch nie habe ich so sehr an diesem Fach gezweifelt wie heute. Ich spreche viel über einen "Digitalen Humanismus" und die Verantwortung der Informatik in der Gesellschaft, aber noch nie schien mir das so wichtig wie gerade heute. Und dass ich weder Smartphone noch Twitter-Account besitze, fühlte sich noch nie so richtig an wie vor einer Woche, als ich mit vielen anderen vor dem Stephansdom stand und beim Lichtermeer die Taschenlampe meines alten Nokia-Handys einschaltete, im stillen und doch überlauten Gedenken an Frau Dr. Kellermayr.

Die Zeit der Ausreden ist vorbei, wir müssen endlich ehrlich zu uns sein. Und eine Gesellschaft, die den Atomausstieg schafft, ist dann auch zu anderen Ausstiegen in der Lage. Fangen wir heute damit an!