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Wahlärzte und Ärztemangel

Von Ernest G. Pichlbauer

Gastkommentare
Dr. Ernest G. Pichlbauer ist unabhängiger Gesundheitsökonom und Publizist.

Wir bilden immer mehr Mediziner aus - aber sie fehlen uns trotzdem.


Seit wenigstens 25 Jahren versuchen Experten vergeblich zu erklären, dass es auch hierzulande nötig ist, sich ernsthafte Gedanken über den Bedarf an Ärzten zu machen. Stattdessen wird über Wahlärzte gefeilscht. Diese - in Europa einzigartige - Spezies, die im öffentlichen Gesundheitssystem arbeitet, ohne richtig dazuzugehören, ist eine tolle Verhandlungsmasse: Wie soll man deren Versorgungswirksamkeit bewerten? Immerhin ist ein Viertel aller Ärzte dieser Spezies zuordenbar. Und je nachdem, wie wichtig oder unwichtig sie für die Versorgung angenommen wird, umso mehr (je nach Sichtweise Ärzte, Uni-versitätsplätze, Kassenstellen, Ausbildungsstellen, immer aber Geld) braucht man.

Die Ärztekammer ist der Meinung, alle Wahlärzte seien notwendig, und hat in einer eigenen etwa 15 Jahre alten Studie, deren Prognosezeitraum jetzt erreicht wird, gemeint, in Zukunft wäre pro 180 Einwohner ein Arzt nötig. Das haben wir fast erreicht - allerdings ohne den Mangel zu beheben. Ärztemangel und Unterversorgung wären nur abwendbar, wenn wir sofort 100 Ärzte mehr pro Jahr ausbilden, und das haben wir getan. Die Zahl der Ärzte steigt und steigt (auf das 1,3-Fache des EU-Schnitts), aber der Mangel bleibt. Der eigentliche Hintergrund dürfte sein, dass das Ärztepensionssystem (Wohlfahrtsfonds) pleitegeht, wenn nicht immer frische Zahler ins Pflichtsystem gespült werden.

Und da kommen die Länder mit dem Wunsch nach Studienplätzen. Dank der Vorgabe des "Ärztemangels" hat es Linz geschafft, eine MedUni zu kriegen - neue Universitäten in diversen Bundesländern, die neben Prestige auch frisches Geld aus Wien versprechen, sind sehr beliebt. Diese Uni - und die seitdem neu entstandenen Privatunis - konnten die Absolventenzahl auf das 1,6-Fache des EU-Schnitts heben, aber den Mangel nicht ausgleichen - die Zahl der Absolventen steigt und steigt, der Mangel bleibt.

Und nun kommen die Kassen. Diese sind verpflichtet, jedem Versicherten ausreichend Kassenärzte zur Verfügung zu stellen. Wenn wirklich die Wahlärzte für die Versorgung nötig sind, dann müsste die Zahl der Kassenverträge seit langem und in Zukunft noch deutlicher steigen. Tut sie aber nicht. Seit 1995 bleibt die Zahl gleich. Die Kassen gehen davon aus, dass Wahlärzte nicht oder in nur sehr geringem Umfang nötig sind, und setzen deren Versorgungswirksamkeit mit wenigen Prozent eines Kassenarztes an. Sie sind also eine Art Luxus-Überschuss. Ein paar "Versorgungswirksame" sollten zu einem Kassenvertrag verpflichtet werden, und der Rest sei abzuschaffen. So etwas konterkariert das Mangel-Narrativ. Und irritiert gleich noch mehr: nämlich die Ärztekammer.

Die sitzt im Dilemma: Einerseits sollen die Kassenkuchenstücke nicht durch mehr Kassenärzte kleiner werden, andererseits braucht es eben mehr Ärzte für das Ärztepensionssystem - logischer und altbekannter Schluss, den alle lieben: Es braucht mehr Geld. Und so verhandeln die staatlichen Interessengruppen um die Wahlärzte, denn dort ist der Hebel, wie man jede gewünschte Zahl errechnen kann. Es waren und werden diese Wahlärzte sein, die, unabhängig von der Realität, genauso bewertet werden, dass möglichst alle Interessen befriedet werden.

Ach ja, falls Ihnen, werte Leser, das bekannt vorkommt - abgesehen von ein paar Kleinigkeiten stand das so schon vor elf Jahren an dieser Stelle.