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Digitalisierung der Pflege mit menschlichem Antlitz

Von Giovanni Rubeis

Gastkommentare
Giovanni Rubeis leitet den Fachbereich Biomedizinische Ethik und Ethik des Gesundheitswesens an der Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften in Krems. Er forscht zu ethischen Aspekten der Digitalisierung in Medizin und Pflege. Er ist Mitherausgeber des Sammelbands "Digitalisierung der Pflege" (V&R unipress).
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Kann Technik genuin soziale und politische Probleme wirklich lösen?


Die Menschen werden immer älter. In der Pflege fehlen Fachkräfte. Diese beiden Sätze gehören zum Standardrepertoire in der Debatte um die Digitalisierung der Pflege. Nach der gängigen Argumentation sind digitale Technologien die Antwort auf die Auswirkungen des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels. Die digitalisierte Pflegedokumentation vereinheitlicht Arbeitsschritte und macht Handlungsabläufe effizienter, was der strafferen Arbeitsorganisation dient. Intelligente Monitoring-Technologien im Krankenhaus machen viele Routinekontrollen durch Pflegekräfte obsolet. Smarte Assistenzsysteme in der eigenen Wohnung erlauben ein längeres und weitgehend selbständiges Leben zu Hause, was Pflegeheime entlastet. Roboter unterstützen Pflegekräfte im Pflegeheim beim Heben, Tragen, Sortieren von Pillen oder Anreichen von Essen. Manche gehen sogar mit Bewohnern von Pflegeheimen spazieren oder trällern ihnen ein Liedchen.

Die Chancen digitaler Technologien in der Pflege sind also vielfältig: effizientere Datennutzung, Kosteneinsparung, mehr Zeit für Gepflegte durch den Wegfall lästiger Tätigkeiten. Das kommt den Gepflegten, den Pflegekräften und letztlich der Allgemeinheit zugute, da sich so auch das Gesundheitssystem finanziell entlasten ließe.

Aber kann Technik genuin soziale und politische Probleme, wie demografischen Wandel und Fachkräftemangel, wirklich lösen? Nein, denn wohin die Digitalisierung führt, hängt von den Rahmenbedingungen ab, die wir als Gesellschaft gestalten. Technologien müssen mit dem Ziel entwickelt werden, Pflegekräfte zu unterstützen, statt sie zu ersetzen. Dabei müssen die tatsächlichen Bedarfe von Gepflegten wie Pflegekräften im Vordergrund stehen. Besteht das Ziel vorrangig in Einsparungen und Effizienzsteigerungen, wird das die Situation in der Pflege nicht verbessern.

Im schlimmsten Fall werden digitale Technologien zukünftig eingesetzt, um Menschen kostengünstig zu verwahren und zu verwalten: mit standardisierten, hocheffizienten Prozessabläufe für standardisierte Patienten und Klienten. Im besten Fall werden Anwendungen entwickelt, welche die Lebensqualität von Gepflegten fördern, Pflegekräfte entlasten und die Versorgungsqualität steigern. Doch letzteres Szenario gelingt nicht mit dem oft gehörten Appell, in einem technisierten Pflegesetting sei es die vorrangige Aufgabe von Pflegekräften, die Menschlichkeit zu wahren. Entbunden von einem Großteil mechanischer Tätigkeiten, werden Pflegekräfte so zu Hüterinnen der Menschlichkeit stilisiert.

Der grundlegende Widerspruch liegt in der Annahme, Menschlichkeit ließe sich in einem unmenschlichen Setting erzeugen. Jenseits aller Romantisierungen - "Pflege mit Herz" - bleibt Pflege doch vorrangig Beziehungsarbeit. Menschlichkeit in der Pflege ist kein Add-On zu digitalen Technologien. Es ist nicht die Aufgabe von Pflegekräften, die Kollateralschäden der Technik abzufangen. Vielmehr muss Technik so gestaltet und eingesetzt werden, dass sie ein menschliches Miteinander erlaubt und fördert. Nur so ist eine menschenwürdige Pflege möglich - für Gepflegte wie Pflegende.