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Ein "Tarif auf Rädern" ist eine Überkompensation

Von Peter Brandner

Gastkommentare
Peter Brandner ist Ökonom und Mitbegründer der Initiative Die Weis[s]e Wirtschaft.
© privat

Die Abgeltung der kalten Progression soll nicht durch einen Wechsel zur Realbesteuerung normiert werden.


In einem Gastkommentar verteidigten jüngst Susanne Forstner, Simon Loretz, Michael Reiter und Ludwig Strohner das Vorhaben der Regierung, als Ausgleich der kalten Progression einen "Tarif auf Rädern" zu beschließen. Wurde doch in einem Aufsatz der Fachzeitschrift "Steuer- und Wirtschaftskartei" gezeigt, dass in der Periode 2023 bis 2026 der Ministerialentwurf Kosten von kumuliert 20,3 Milliarden Euro ausweist, während sich die Mehreinnahmen aus der kalten Progression in dieser Periode nur auf kumuliert 6,1 Milliarden belaufen, der Finanzminister also um 14,2 Milliarden Euro mehr "zurückgibt", als er an kalter Progression eingenommen hätte - eine beträchtliche Überkompensation.

Die Kritik entzündet sich nicht an den Beträgen, sondern an der Definition der kalten Progression und vermeintlich falschen Schlüssen. Das erstaunt, liegt dem Fachbeitrag doch die klassische Lehrbuchdefinition zugrunde, die in der einschlägigen Literatur genauso wie auch in wirtschaftspolitisch relevanten Analysen, etwa des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland, verwendet wird. Ebenso im Progressionsbericht des deutschen Finanzministeriums: "Als kalte Progression wird der Anstieg des durchschnittlichen Steuersatzes der Einkommensteuer bezeichnet, der auf Lohn- und Gehaltserhöhungen zurückzuführen ist, die lediglich den Preisanstieg (Inflation) ausgleichen."

Kalte Progression entsteht aus dem Zusammenspiel eines progressiven Steuertarifs, nominellen Einkommenssteigerungen und Inflation. Fehlt mindestens einer der drei Aspekte, kann nicht mehr sinnvoll von kalter Progression gesprochen werden. Forster, Lorenz, Reiter und Strohner formulieren daher richtig: "Etwas vereinfachend kann man sagen: Der gesamte Progressionseffekt ist die Summe aus der kalten Progression, die aus dem Inflationseffekt auf das Einkommen resultiert, und einer ‚warmen Progression‘, die aus der realen Einkommensänderung resultiert." Es herrscht somit Einigkeit, dass bei einem nominellen Einkommensanstieg bis zur Inflationsrate (also sinkendes oder konstantes Realeinkommen) die gesamte Progression "kalt" ist, bei einem darüber hinaus gehenden Anstieg (steigendes Realeinkommen) nur der entsprechende Inflationsanteil.

Konzept der kalten Progression

Das Phänomen der kalten Progression zeigt sich am Verhältnis der beiden Faktoren Realeinkommen und Steuersatz: Die Steuerbelastung steigt ohne Zunahme des Realeinkommens, allerdings im Konzept der kalten Progression als Folge sowohl der nominellen Einkommenserhöhung im Tarifsystem (progressionsbedingt höherer Steuersatz) als auch der Inflation (inflationsbedingt niedrigeres Realeinkommen). Ohne nominelle Einkommenserhöhung kein Progressionseffekt, daher auch kein kalter Progressionseffekt, der ein Teil davon ist. Das sieht auch Wifo-Chef Gabriel Felbermayr so. Folglich stellen Forster, Lorenz, Reiter und Strohner im Fall einer Steuerzahlerin mit gleichbleibendem Nominaleinkommen trotz positiver Inflation richtigerweise fest: "Bei gleichem Nominaleinkommen ist der gesamte Progressionseffekt für diese Person tatsächlich gleich null, da auch ihr Durchschnittssteuersatz gleich bleibt."

Dann aber unterliegen sie dem entscheidenden Irrtum: "Die kalte Progression besteht darin, dass der Durchschnittssteuersatz für diese Steuerzahlerin trotz der verringerten realen steuerlichen Leistungsfähigkeit gleich bleibt." Das Missverständnis besteht darin, ausschließlich den Inflationseffekt als kalte Progression zu bezeichnen und den Steuertarif, der bei gleichbleibendem Nominaleinkommen keine Rolle mehr spielt, auszublenden. Auch bei einer Flat-Tax (konstanter Steuersatz, somit keine Progression) bliebe der Durchschnittssteuersatz trotz der inflationsbedingt verringerten realen steuerlichen Leistungsfähigkeit gleich.

Um den Durchschnittssteuersatz an die gesunkene reale steuerliche Leistungsfähigkeit anzupassen, müssen die Parameter des Steuertarifs mit der Inflationsrate angepasst werden. Man spricht vom Konzept der Realbesteuerung, umzusetzen bei einem progressiven Steuertarif als "Tarif auf Rädern", bei einer Flat-Tax als laufende Senkung des Einheitssteuersatzes. Forster, Lorenz, Reiter und Strohner erkennen, dass im Gesetzesentwurf mit seinem "Tarif auf Rädern" eine andere Definition von kalter Progression zugrunde liegt als im kritisierten Fachaufsatz. Es ist aber gerade die Pointe des Fachartikels, auf die budgetären Konsequenzen aufmerksam zu machen, wenn im Ministerialentwurf das Konzept der Realbesteuerung ("inflationsneutrale Einkommensbesteuerung") fälschlicherweise als kalte Progression definiert und so ein Wechsel zur Realbesteuerung als "Abschaffung" der kalten Progression normiert wird.

Wechsel zur Realbesteuerung

Es besteht Einigkeit darüber, dass eine "korrekte Berechnung der kalten Progression Daten über die individuelle Entwicklung des Einkommens steuerpflichtiger Personen im Zeitablauf verlangt, die typischerweise nicht vorliegen. Um die kalte Progression entsprechend abzuschaffen, müsste in der Folge jeder Person ein individueller Steuertarif zugeordnet werden, der sich aus der ihrer vergangenen Einkommensentwicklung bestimmt. Dies ist in der Realität nicht umsetzbar." Welche Lösungen bieten sich an?

Im Fachartikel wird, um am Konzept der kalten Progression festhalten zu können, dieses auf gesamtwirtschaftlichen Größen (Lohnsteueraufkommen, Bruttolohn- und -gehaltssumme) angewandt, und es werden jene steuerlichen Mehreinnahmen ermittelt, die aufgrund der kalten Progression tatsächlich ins Budget fließen. Nur diese sollen wieder automatisch an die Gemeinschaft der Steuerpflichtigen zurückfließen.

Im Ministerialentwurf wird, um an der individuellen Perspektive der Steuerpflichtigen festhalten zu können, zum Konzept der Realbesteuerung gewechselt. Statt der tatsächlichen Einkommensentwicklung wird allen Steuerpflichtigen ein hypothetischer nomineller Einkommenszuwachs in Höhe der Inflation unterstellt, also ihr maximal möglicher kalter Progressionseffekt berechnet und aggregiert. Für viele Steuerpflichtige wird die Annahme einer Einkommenserhöhung (und damit ein Progressionseffekt) im Ausmaß der Inflationsrate nicht zutreffen. Die Berechnung ergibt somit den hypothetischen Steuerausfall eines "Tarifs auf Rädern", nicht aber jene steuerlichen Mehreinnahmen, die tatsächlich als kalte Progression ins Budget fließen.

Wird die kalte Progression durch einen "Tarif auf Rädern" abgegolten, führt dies unweigerlich zu einer systematischen Überkompensation. Wenn nicht gleichzeitig Mehreinnahmen aus der realen Progression die Steuerquote hinreichend erhöhen, senkt der "Tarif auf Rädern" tendenziell die gesamtwirtschaftliche Steuerquote. Das wäre mit den Worten von Forstner, Loretz, Reiter und Strohner "ein gewichtiges Argument gegen die geplante Gesetzesänderung". Was - abseits akademischer Diskussionen - bereits der Blick auf die Lohnsteuerquote der nächsten Jahre nahelegt. Ob die Regierung reagieren wird?