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Der positive Zweifel

Von Rudolf Bretschneider

Gastkommentare
Rudolf Bretschneider ist seit rund 50 Jahren als Markt- und Sozialforscher tätig. Er war von 1973 bis 2007 Geschäftsführer und anschließend Konsulent von GfK Austria.
© privat

Die Wissenschaftsskepsis und ihre Ursachen.


Zu den von der Pandemie neubelebten öffentlichen Gespenstern gehört die "Wissenschaftsskepsis". Wie sie genau aussieht, ja, ob sie sich überhaupt in ein einheitliches Bild fassen lässt oder nicht vielmehr ein Begriff auf der Suche nach einem eindeutigen Sinn ist, muss sich erst zeigen. In einer recht oberflächlichen EU-Umfrage zum Thema Wissenschaft stünden die Österreicher der Wissenschaft besonders skeptisch gegenüber - so lautete die besorgte Interpretation. 1)

Spezielle Analysen sollen dazu dienen, mit Wissenschaft und Skepsis ihr gegenüber besser umzugehen. Der Wunsch nach einer positiven Einstellung zu Wissenschaft ist verständlich, denn ein einigermaßen korrektes Bild von Wissenschaft ist nicht nur für deren Gedeihen wünschenswert, sondern auch für die Wirkung, die sie in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft spielen kann: als vertrauenswürdige Beratungsinstanz, als Unterstützerin von Innovation, als Vermittlerin von Weltwissen, ja als Quelle von Gesprächskultur.

Die Fragen nach den unterschiedlichsten Einstellungen zur Wissenschaft verdienen eine systematische Beschäftigung, unabhängig von den Diskussionen, die im Zuge der Pandemie aufgetaucht sind und auch bei anderen Themen (Klimawandel, Demokratie, Bioethik etc.) immer wieder virulent werden. Wie kann es sein, dass eine Institution, der die Menschen bei Gesundheit, Lebenserwartung, Ernährung, Energieversorgung, Mobilität und so weiter unglaubliche Verbesserungen verdanken, immer auch auf Misstrauen, Skepsis, ja Aggression trifft? 2)

Einige "Erklärungen" scheinen auf der Hand zu liegen: Vieles an wissenschaftlichen Methoden und Themen ist schwer verständlich. Einer ihrer modernen Begründer, Francis Bacon (1561 bis 1626), hat sogar die Fabel von der unheimlichen Sphinx für eine Anspielung auf die Wissenschaft gehalten. 3) Und mit formalisierten und spezialisierten Wissenschaftssprachen wurden viele Forschungen selbst für hochgebildete Laien rätselhaft. 4)

Die Welt der Wissenschaft stellt mit ihrer oft unbeabsichtigten Hermetik eine "Kränkung" dar, die heutzutage mehr umschließt, als Sigmund Freud seinerzeit gemeint hat. Mit der kosmologischen, der biologischen, ja der psychologischen Kränkung mögen sich ja viele Menschen in der Zwischenzeit abgefunden haben, aber dass sie nach wie vor ahnungslos vor der Relativitätstheorie, der Quantentheorie, den Evolutionstheorien und den Fragen von Künstlicher Intelligenz (KI) stehen, obwohl all dies das moderne Weltbild revolutioniert haben soll, ist (mitunter) schon etwas beschämend. Vieles, was an Wissenschaft dargeboten wird, erfordert Glauben. Es birgt - wenn man Zweifel äußert - Häresie-Gefahr. Wer nicht glaubt, ist Ignorant, Gegner oder gar "Leugner".

Kritik an früheren Praktiken der Wissenschaft

Zweifel an der Wissenschaft kommen freilich auch durch die Kritik an vielen ihrer früheren Praktiken auf. Vor allem dann, wenn die Folgen der ehemaligen Wissenschaftsgläubigkeit verheerend waren - etwa in der Anthropologie, bei den "Rassentheorien", den Massen-Intelligenzmessungen 5) und ähnlichem. Auch plumpe Fälschungen und Plagiate gehören zu wiederkehrenden irritierenden Ereignissen. 6)

Aber noch schlimmer ist, wenn Kritik und Selbstprüfung durch die Wissenschaft ausbleiben oder politischer Druck beziehungsweise staatliche oder starke wirtschaftliche Finanzierung das Forschungsgeschehen inhaltlich zu steuern beginnen. 7) Diesbezügliche Vermutungen führen leicht (auch ohne zwingende Beweise) zu Widerstand - vor allem wenn die wissenschaftlichen "Ergebnisse" den eigenen (Vor-)Urteilen widersprechen. Peinlich auch, wenn vielzitierte Studien bei Fehlern ertappt werden: dass sie zum Beispiel auf einer lächerlich kleinen empirischen Basis beruhen oder ihre Thesen durch gezielte Auslassungen "erarbeiten". Was nicht passt, wird unterdrückt. 8)

Etwas anderes ist der gelegentlich sichtbare Streit zwischen Wissenschaftern; der ist zwar nicht gerade vertrauensbildend, aber selbstverständlicher Teil des Fortschreitens und manchmal produktiv. Mitunter ist die Auseinandersetzung sogar vorbildlich für Konfliktaustragung. Es gibt - entgegen manch pathetischer Aussage von ORF-Nachrichtensprechern - eben nicht nur Eine einzige Wissenschaft (und schon gar keine Einheitswissenschaft). 9)

Vielfalt und wissenschaftliche Kontroverse sind geradezu Grundmerkmale von Wissenschaft. Leider scheinen sich Versuche zu mehren, unter Berufung auf "die Wissenschaft" unerwünschte, störende Auffassungen zu unterdrücken: durch Auftrittsverbote für bestimmte Vortragende, Diskussionsunterdrückung, inszenierte Shit-Storms, Zensurempfehlungen an Medien, Techniken der "Cancel Culture". 10)

Enttäuschung gescheiterter Hoffnungen

Die Dinge, die das Vertrauen in die so wichtige Institution Wissenschaft kurzfristig stören oder langfristig unterminieren, scheinen zahllos. Die Enttäuschung gescheiterter Hoffnungen gehört ebenso dazu wie das Erschrecken über stets neue sensationelle Prophezeiungen (zum Beispiel in der Gentechnik, bei "Climate "Engineering" oder KI). Die skeptischen Urteile unterschiedlichsten Ursprungs muss man wahrscheinlich als Begleitschatten (Plural!) von Wissenschaft akzeptieren.

Die Wissenschafter selbst können sich um den Ruf der Gesamtinstitution nicht wirklich kümmern. Sie kennen (meist) ihre Grenzen und die Einflüsse, denen sie als Menschen unterliegen. 11) Dass die Wissenschaft bei der Erfüllung ihrer vielfältigen/unterschiedlichen Rollen auch in hohem Maße auf Medien angewiesen ist, tritt erschwerend hinzu. Es bringt eine Reihe von bereits lange bekannten Problemen mit sich 12) - für wissenschaftlich Tätige, Medienangehörige und Publikum. Erstere wählen meist vorsichtige Formulierungen, manchmal ausgewogen bis zur Unwirklichkeit. Die Vermittler lieben die medienüblichen Übertreibungen - sie sind verständlicherweise mehr schlagzeilen- als fußnotenorientiert. Das Publikum hingegen will sehr oft "das Wichtigste" (kurz, klar und eindeutig).

Um Wissenschaft besser vermitteln zu können, bedarf es eines langen Atems. Ein solcher ist jenen, die Wissenschaftsskepsis (nach klarer Diagnose!) reduzieren wollen, zu wünschen. Sie müssen die Verwendung des Begriffs "Wissenschaft" vor Missbrauch schützen, Transparenz der Methoden einfordern, wenn Studienergebnisse dargestellt werden, und die Probleme aufzeigen, mit denen es die Wissenschaft zu tun hat. Gesunde Skepsis, das vernünftige Misstrauen, das ja eine Kontrollhaltung sein kann, sollte begrüßt und nicht diffamiert werden. Es gibt so etwas wie den positiven Zweifel. Er war oft ein Teil der wissenschaftlichen Haltung.

Im Übrigen bin ich der Meinung, dass es dringlicher wäre, mit der Bekämpfung des Analphabetismus zu beginnen.•

Anmerkungen zum Text:1) Das Wissenschaftsministerium lässt empirisch untersuchen, was es mit der Wissenschaftsskepsis auf sich hat. Die Akademie der Wissenschaften will sich des Themas kontinuierlich und systematisch annehmen.Der Beirat für Wirtschafts- und Sozialfragen hat bereits im Jahr 1979 eine große empirische Untersuchung veranlasst, die in Buchform unter dem Titel "Die zweifelnde Gesellschaft" erschienen ist. Das Phänomen ist offensichtlich nicht ganz neu und wurde nicht erst durch die Pandemie offenbar. Aus den politischen Auseinandersetzungen um Atomkraft und Gentechnik (Letztere brachte auch die Schlagzeile "Österreich muss genfrei bleiben!" hervor) wurden allerdings keine weiteren Folgerungen abgeleitet: Charakteristisch waren höchstens eine weitgehende Diskussionsverweigerung und Forschungseinschränkungen.2) Die positiven Darstellungen der Erfolgsgeschichte, ja der Triumphe der Wissenschaft haben zwar ihren Platz in den Medien; aber eine längere Diskussion lösen sie selten aus. Wer denkt auch nur gelegentlich daran, welche Folgen die Entdeckung der Elektrizität oder des Penicillins hatte. Bücher wie Steven Pinkers "Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt" (S. Fischer 2018) oder auch "Mehr Rationalität. Eine Anleitung zum besseren Gebrauch des Verstandes" (S. Fischer 2021) haben zwar ihren Platz in den Medien, aber weit mehr Aufmerksamkeit erzielen meist "Forschungsergebnisse" mit dystopischem Charakter. (Die Meldung, dass prognostizierte Katastrophen NICHT eingetreten sind, ist ja wirklich nicht aufregend.)3) Francis Bacon. "Sphinx"; in Gardener, Martin (ed): "Great Essays in Science" (New York 1994).4) Ein gutes Beispiel ist Paul Valéry, der seine Bemühungen um Mathematik, Physik und Biologie immer wieder thematisierte und unter anderem feststellte, "dass der ganze verbale, theoretische, explikative Anteil unseres Wissens dem Wesen nach provisorisch bleibt". In: "Paul Valéry Werke" (Frankfurter Ausgabe, Band 4, Insel 1989).5) Stephen Jay Gould hat in seinem Buch "Der falsch vermessene Mensch" (Suhrkamp tw 583) die Folgen problematischer Forschungsformen wie Schädelvermessungen aufgezeigt. Er kritisiert, vornehmlich am Beispiel von Intelligenzforschung (IQ), den "Mythos, die Wissenschaft sei selbst ein objektives Unterfangen und werde nur dann richtig betrieben, wenn Wissenschafter die Zwänge ihrer Kultur abstreifen könnten und die Welt so sähen, wie sie wirklich ist". Das Buch hat mich wohl unter anderem deshalb beeindruckt, weil meine Generation beim Studium der Psychologie zwar lernte, wie man einen Intelligenztest konstruiert, austestet, validiert etc., aber kaum etwas über seine Geschichte (kulturelle Bedingtheit, ursprüngliche Zielsetzungen, problematische Anwendungen) erfuhr. Wir waren natürlich selber schuld. Hätten es ja nachlesen können.6) Eine durchaus unterhaltsame Sammlung an Missbrauch von Wissenschaft enthält das Büchlein von Ben Goldacre Bad Science (Harper 2009). In einer Kritik hieß es zurecht: "Hugely entertaining . . . an essential primer for anyone who ever felt uneasy about news coverage of faddish scientific, ‚breakthroughs‘, health scares and ‚studies have shown‘ stories."Empfehlenswert ist in diesem Zusammenhang auch das Buch des Wissenschaftsjournalisten David R. Freedman "FALSCH! Warum uns Experten täuschen und wie wir erkennen, wann wir ihnen nicht trauen sollten" (München 2010).7) Patrick J. Michaels, Terence Kealey (eds.): "Scientocracy - The tangled web of public science and public policy" (Cato Institute 2019). Die Autoren des Bandes versuchen anhand neuerer Untersuchungen zu zeigen, welche Probleme durch Finanzierung und Gebrauch von Wissenschaft durch öffentliche Institutionen entstehen (können). Titel unter anderem: "Science and Liberty", "The Dietary Fat Fiasco", "How Politics Created the Salt-Hypertension Myth", "Endangered Science and the EPA’s Finding of Endangerment from Carbon Dioxide".Bücher wie dieses sind für viele "Klimaschützer" nachgerade "giftig" - schon deshalb, weil sie bei Cato erschienen sind.8) Außer Betracht muss im Rahmen des kleinen Artikels bleiben, dass bestimmte politische Bewegungen sich selbst auf "Wissenschaft" gegründet sahen und einen nicht kleinen Teil ihres Sendungsbewusstseins und ihrer Wirkung daraus ableiteten. Der Marxismus- Leninismus war (unter anderem) eine Lehre, die alle anderen Auffassungen von "Wissenschaft" aus dem Weg räumen wollte. Es ist kein Zufall, dass Lenin gegen den "Positivismus" polemisierte. Die Dialektik als grundlegende wissenschaftliche Methode lebte noch lange nach der Hochblüte des Marxismus-Leninismus weiter.9) Es gibt nicht nur eine einzige Wissenschaft - wie zum Beispiel in der Pandemieberichterstattung verschiedentlich geäußert wurde. Auch eine Berufung auf einen angeblichen "Konsens" in der Wissenschaft ist ein Unfug. Die Geschichte der Wissenschaft ist voll von Dissens, Kampf, Verdrängung, Streit. Es hat in ihr auch durchaus Tradition, Andersdenkende als "Leugner", Häretiker oder Ignoranten zu bezeichnen; für eine Klärung von Sachverhalten ist das aber kontraproduktiv (für erfolgreiches Überzeugen auch). Wenn man die Standpunkte verhärten will, vermische man sie mit politischen Credos, Diffamierungen und der konsequenten Ablehnung von ergebnisoffener Diskussion in einer breiteren Öffentlichkeit. Und vielleicht ist die beste Strategie zur Reduktion von Wissenschaftsskepsis (wenn man sie denn für ein gravierendes Übel hält) nicht deren kritische Analyse, sondern die Weckung der Freude an der Wissenschaft. Beginnend mit der Freude an Buchstaben.10) Helen Pluckrose and James Lindsay: "Cynical Theories. How Universities Made Everything about Race, Gender, and Identity - and Why This Harms Everybody" (Swift Press 2020). Das Buch ist allen jenen Menschen zu empfehlen, denen Wissenschaft am Herzen liegt und/oder die für sie Mitverantwortung tragen (also wieder ziemlich vielen).11) Es lohnt, bei Francis Bacon nachzulesen, zum Beispiel in Wolfgang Krohn: "Francis Bacon" (Beck’sche Reihe 2006 S 100ff). Bei seiner Kritik der Erkenntnisinstrumente (Lehre von den Idolen) warnt er unter anderem vor unbemerkten kulturellen Einflüssen, Verführung durch Sprache oder das eigene Wollen ("Was nämlich der Mensch lieber für wahr hält, das glaubt er eher.").12) Nick Davies: "Flat Earth News - Falsehood, distortion and propaganda in the global media" (Vintage books 2009); und gewohnt seriös: Manfred Jochum: "Neue Anforderungen an Bildung, Wissenschaft und Medien" (Conturen Nr. 1, IWIP 2000).