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Alles wird Wut

Von Michael Bröning

Gastkommentare

Moralismus im "Juste Milieu" gefährdet nicht nur die Wahlchancen der Linken, sondern auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt.


Für linke Parteien kommen die Einschläge näher: Schon der Sieg der Schwedendemokraten im Herzland der europäischen Sozialdemokratie war ein politisches Erdbeben. Nun sendet der Wahlsieg der Rechtsaußen-Partei Fratelli d’Italia eine erneute Schockwelle durch das progressive Lager. Und am Horizont warten in den USA nicht nur heikle Zwischenwahlen im November, sondern in zwei Jahren womöglich auch eine Rückkehr Donald Trumps.

Derzeit muss auf der Suche nach wirklichen Erfolgen linker Kräfte bis nach Australien und Brasilien geschaut werden - wenn man von Dänemark und Portugal einmal absieht. Wenn dieser Trend anhält, dürfte das mit der deutschen Bundestagswahl ausgerufene "sozialdemokratische Jahrzehnt" zu Ende gehen, bevor es richtig begonnen hat. Im Hinblick auf die jüngsten Niederlagen setzen im "Juste Milieu" nun die bekannten Reflexe ein: "Barbari ante portas!" Hier das Licht der Demokratie, dort dumpfer Populismus. Statt auf Selbstkritik stehen die Zeichen auf Beschönigung, schmallippig verordnete Themenwechsel und moralisch aufgeladene Durchhalteparolen.

Online-Demokratie im Dauerkurzschluss

Sicher: Die Krise der Linken ist kaum zu trennen von grundsätzlicheren Trends der Fragmentierung. Denn tatsächlich suchen Parteien jeglicher Couleur derzeit nach einem Kurs durch die Untiefen einer im Dauerkurzschluss befindlichen Online-Demokratie. Doch das aktuelle Schrumpfen der Linken kommt nicht aus dem Nichts, sondern ist die Folge von politischem Handeln und nicht zuletzt der Art und Weise, wie dieses Handeln - oder Nichthandeln - kommuniziert wird.

Denn die so verschiedenen Krisendebatten dieser Tage haben eines gemeinsam: ein moralisierendes Tremolo, das immer häufiger gerade vom linksliberalen Milieu ausgeht. Dieser allgegenwärtig erhobene Zeigefinger aber ist es, der nicht nur pragmatische Politik erschwert, sondern durch die zur Schau gestellte Alternativlosigkeit auch die demokratische Willensbildung beschädigt.

Denn zur Wahrheit gehört - auch wenn das in progressiven Kreisen nicht gerne gehört wird: Auch überzogene "No pasarán!"-Rufe und reflexhafte Dauerattacken gegen "Hetzer und Spalter" sind bei ehrlicher Betrachtung kaum sonderlich förderlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie wäre es anstelle von immer neuen Wutreden deshalb einmal mit moralischer Abrüstung - nicht zuletzt gegenüber der eigenen - ehemaligen - Anhängerschaft?

Linkes Beschwören moralischer Prinzipien

Sicher hat die Moral kein eindeutiges politisches Zuhause. Und auch die Doppelmoral ist ideologisch ohne festen Wohnsitz. Doch auffällig ist, wie sehr das Beschwören moralischer Prinzipien einst eine Domäne der Rechten darstellte und heute nach links gewandert ist. Der seinerzeitige deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) verkündete einst eine "geistig-moralische Wende", während die Linke stets die religiöse und sexuelle (Doppel)-Moral der konservativen Eliten verspottete. Heute sind die Rollen vertauscht. Und es scheint, als käme dem Moralisieren zunehmend die Rolle zu, vermeintliche politische Alternativlosigkeiten zu sakralisieren.

Im Bereich Migration gelingt es progressiven Stimmen nur in Ausnahmefällen, Eigeninteressen und humanitäre Verpflichtungen auf einen Nenner zu bringen. Statt offene Diskussionen zu führen, verharren Teile des progressiven Milieus in einer Verweigerungshaltung, in der kaum gebremste Masseneinwanderung bestenfalls gar nicht und wenn, dann lediglich als unabwendbar thematisiert wird. Dabei war dieses Thema sowohl in Schweden als auch in Italien wahlentscheidend.

Mechanismen der Debattenunterbindung lassen sich auch in der Pandemie-Politik feststellen. Auch hier blockierte moralische Aufladung zunächst die Debatte und in der Folge immer wieder den Common Sense. Selbst erwiesenermaßen sinnlose Maßnahmen wurden und werden schließlich gerade in Teilen des progressiven Milieus unbeirrt verteidigt und augenscheinlich als Instrument der tugendhaften Selbstvergewisserung zelebriert. Absurde Regeln schützten zwar nicht vor dem Virus, aber offenbar immerhin vor Beifall aus der vermeintlich falschen Ecke.

Diskursverweigerung beim Thema Atomkraft

Jüngstes Beispiel dieser Zurschaustellung von Moral in Teilen des progressiven Milieus ist der Eiertanz um die Kernkraftlaufzeiten, der auch in Schweden zur Niederlage der Linken beigetragen hat. Mag ja sein, dass das Überdenken des Atomausstiegs eine Zumutung darstellt. Und sicher ist Kernkraft keine Wunderkur - aber zwischen Todesgefahr und Allheilmittel erstreckt sich ein weites Feld.

Denn für die Öffentlichkeit stellt sich im Anblick der Diskursverweigerung zunehmend die Frage, ob der so rigorose insbesondere grüne Widerstand gegen die Kernenergie nicht lediglich aufrechterhalten wird, um die erwünschte Transformationsagenda zu schützen. Schließlich ist es diese Transformation, die mit leuchtenden Augen allerorts auch als moralische Läuterung verordnet wird.

Der Versuch, partielle Realitätsverweigerung in Sachen Nuklearenergie als moralische Standfestigkeit zu verkaufen, löst bei der Mehrzahl der Menschen dabei jedoch nur noch Kopfschütteln aus. Und weder ein moralisierender Tunnelblick dürfte westliche Demokratien aus der Energiekrise führen noch die vorbeugende Verdammung der gerechtfertigten Empörung über womöglich bald winterkalte Etagenwohnungen. Die Liste der moralingesäuerten Themen aber lässt sich vom Krieg in der Ukraine bis zum Selbstbestimmungsgesetz fortführen. Und hinzu kommt: Auch auf internationaler Ebene wirkt der Moralüberschusses lähmend. Und zwar insbesondere, wenn der Moralismus auf die Wirklichkeit trifft und zu Bigotterie gerinnt.

Möglichst drastische Dämonisierung des Gegners

Gerade in einer multipolaren Welt sind moralisierende Argumente ungeeignet, globale Koalitionen zu realisieren. Die regelbasierte Weltordnung jedenfalls ist alleine durch eine so moralisch erhabene wie weltweit isolierte Koalition der liberal-westlichen Vorzeigedemokratien ganz sicher nicht zu retten. Von dieser Einsicht aber sind weite Teile des "Juste Milieus" weit entfernt. Die Empfehlung hier lautet vielmehr, moralisch immer noch einen drauf zu setzen. In der Politik läuft dieser Ansatz darauf hinaus, das eigene Lager durch die möglichst drastische Dämonisierung des Gegners zu mobilisieren - und im gleichen Atemzug die Diagnose "Moralismus" als Schmähruf abzutun. Damit aber dürften die Probleme des progressiven Lagers nicht gelöst werden. Im Gegenteil.

Linke Parteien mit Zukunft wären deshalb gut beraten, die Moralisierung des "Juste Milieus" zu begrenzen - gerade, um der Moral zu ihrem Recht zu verhelfen. Denn es ist nicht zuletzt die Inflation der Moral, die zur permanenten Betonung von Haltungsfragen führt. Die wirkliche Änderung der Realität aber droht bei dieser Politik als Stilfrage zunehmend aus dem Blick zu geraten.

Für progressive Kräfte bedeutet all das natürlich nicht, sich nun der ethischen Beliebigkeit zu verschreiben. Das kann und darf keine linke Politik sein - und ist es ja auch nicht. Doch für Politik mit Bodenhaftung sollte sich niemand entschuldigen. Statt auf immer neue moralische Empörung als Triebkraft sollten linke Kräfte deshalb auf eine ganz andere Traditionslinie setzen. Und zwar auf eine, die in der Vergangenheit die Erfolge der linken Mitte maßgeblich ermöglicht hat: auf die Kraft des Pragmatismus.