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Tierschutz und Demokratie

Von Karoline Schmidt

Gastkommentare
Karoline Schmidt ist freischaffende Wildbiologin. Sie lebt in Niederösterreich und ist Mitglied in der "Arbeitsgruppe Wildtiere" im Forum Wissenschaft und Umwelt https://ag-wildtiere.com/.
© privat

Wie der Staat mit Wildtieren umgeht, zeigt seine Einstellung zum Menschen: ein Beitrag zum heutigen Welttierschutztag.


Wenn Tiere im Weg stehen, bremsen wir instinktiv. Nicht so Behörden. Letzten Winter etwa verfügte die in der MA 58 angesiedelte Wiener Jagdbehörde (auf Antrag des örtlich zuständigen Jägers und des Bezirksjägermeisters) den Zwangsabschuss jener rund 60 Rehe, die in Hirschstetten der Stadtentwicklung im Weg stehen. Warum auch nicht? Sechzig Rehe, das sind 0,0002 Prozent jener 286.000, die im Jagdjahr 2020/21 in Österreich erlegt wurden. Rehe sind keine gefährdete Tierart.

Doch engagierte Bürgerinnen und Bürger bremsten, demokratiepolitisch völlig zu Recht (Wildtiere sind laut Gesetz herrenlos, wir alle sind für sie verantwortlich) und erfolgreich: Der Zwangsabschuss wurde ausgesetzt und der Jagdausübungsberechtigte warf die Flinte ins Korn. In Beratungen mit dem Tierschutz Austria, dem Verein gegen Tierfabriken und Tierärzten fand das Wildtierservice der MA 49 eine Alternative: Statt die Rehe zu eliminieren, würde man sie in den Lainzer Tiergarten evakuieren.

Der lokale Nutzen zählt

Das war ein Meilenstein im Umgang mit Wildtieren: ein Abgehen von der gewohnten Standardlösung, im Weg stehende Wildtiere bei Interessenskonflikten unreflektiert, euphemistisch "unbürokratisch" genannt, einfach zu töten. Doch für die Bürgerinitiative kein Grund zur Freude. Sie protestiert ja nicht prinzipiell gegen die Tötung von Rehen, sondern gegen ihr Fehlen vor Ort. Und Lainz ist bekanntlich jenseits der Donau.

Die Diskussion um die Rehe in Hirschstetten mag nebensächlich erscheinen, doch ist sie beispielhaft dafür, dass Österreichs politische Verantwortungsträger oftmals zugunsten einer kleinen Interessensgruppe die Tötung von Wildtieren ermöglichen, ungeachtet fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz, ungeachtet der dadurch verringerten ökologischen Resilienz und der daraus folgenden externen Kosten. Ein häufiges Argument für die vermeintliche Belanglosigkeit der Tötungen: Wölfe, Fischerotter, Biber und andere Arten wären nicht vom Aussterben bedroht. Es ist aber völlig irrelevant, wie viele Wölfe anderswo leben: Um ihre ökologische Funktion zu erfüllen, müssen sie hier und jetzt durch unsere Wälder streifen. Sie fehlen, und ihr Fehlen ist an geringer Baumartenvielfalt wortwörtlich sichtbar.

Gleichermaßen müssen Rehe als Garanten für den Erhalt der Grünflächen nicht irgendwo, sondern in Hirschstetten anwesend sein. Wahrscheinlich wird man, wie geplant, 30 Meter hohe Wohnbauten in die dörfliche Umgebung klotzen - Rehe sind ein zu kleines Hindernis, um die Stadtentwicklung zu bremsen.

Dennoch hat die Bürgerinitiative Wichtiges erreicht: Sie hat Information und Diskussion eingefordert und erhalten. Das ist kein Erfolg für Jagdgegner, naturferne Stadtmenschen mit Bambi-Syndrom, Radikalveganer, vor denen Jäger sich fürchten müssen, sondern Grundlage der Demokratie. So wie in der Landwirtschaft die gesetzliche Verankerung von Tierwohl auch eine Wertschätzung der Viehhalterinnen und -halter beweist, reflektiert der Umgang des Staates mit Wildtieren seine Einstellung zu Menschen.

Abschuss per Verordnung

Es sollte uns beunruhigen, wenn Landesregierungen wissentlich teilweise rechtswidrige Bescheide für den Abschuss von Wölfen erlassen und nachweislich zielführende Schutzmaßnahmen für Weidevieh als nicht machbar erklären; wenn Politiker öffentlich zu Lynchmorden motivieren; wenn die Jägerschaft, die ihr gehegtes Reh- und Rotwild nicht mit Hütehunden schützen kann, selbst beurteilen soll, "ob es sich um einen Problemwolf handelt"; wenn Abschussfreigaben mittels Verordnung erfolgen, weil dagegen kein unmittelbares Rechtsmittel eingelegt werden kann.

Wer sich ein wenig mit Natur- und Artenschutz befasst, kann es kaum anders interpretieren: Da zeigen politische Verantwortungsträger demokratischen Vorgangsweisen den Handrücken mit hochgestrecktem Mittelfinger. Wenn der Landwirtschaftsminister bedauert, dass die Gesetze es nicht erlauben, Wölfe "präventiv" zu töten, und dass gegen Abschussbescheide Beschwerde eingelegt werden kann, bedauert er rechtsstaatliche Prinzipien. Es ist nur ein kleiner Gedankensprung ins Innenministerium, zu Präventivhaft und Abschiebungsbescheiden. Aus gutem Grund identifizierte sich die mundtot gemachte Bevölkerung Hongkongs mit den Wildschweinen der Stadt, welche die Behörde nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung einfach abschießen lässt, ohne die Einwände der "Wild Boar Concern Group" zumindest zu erwägen.

Deshalb ist es auch demokratiepolitisch wichtig, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger und zivilgesellschaftliche Interessensverbände ein von Behörden moralisch fahrlässig verfügtes oder erlaubtes Töten von Wildtieren und viel mehr noch die Vernichtung ihrer Lebensräume beeinspruchen und langfristig zielführende Vorgehensweisen einfordern. Denn weit schädlicher als die An- ist die Abwesenheit von Wildtieren.