Zum Hauptinhalt springen

Europa als Digitalmacht etablieren

Von Süleyman Zorba

Gastkommentare
© stock.adobe.com / BillionPhotos.com

Die digitale Transformation kann ein Schlüssel für alle Krisen, allen voran die Klimakrise, sein.


Ein durchschnittlicher junger Mensch der Gegenwart wird noch vor dem 30. Geburtstag mindestens drei prägende globale Krisen durchlebt haben: die Finanzkrise 2008, die Corona-Pandemie und die Klimakrise. Unserer Generation wird eine zentrale Aufgabe in der Geschichte zukommen. Sie wird Krisen managen müssen. Es liegt an uns, diese Herausforderungen anzunehmen und durch unser Handeln die Weichen für eine freie, gerechte Zukunft auf einem intakten Planeten zu stellen. Das ist eine schwere, teilweise erdrückende Verantwortung. Daher ist es kaum verwunderlich, dass unsere Generation wie keine andere an Zukunftsängsten leidet.

Mit ihrer berühmten "I want you to panic"-Rede beim Weltwirtschaftsforum in Davos sprach Greta Thunberg einer ganzen Generation aus der Seele. Sie wollte, dass die Generation unserer Eltern endlich die Last unserer Verantwortung fühlt. Dieses Gefühl kann uns als Individuen überwältigen. Als Einzelpersonen können wir diese monumentalen Aufgaben nicht bewältigen. Das können wir nur als Gemeinschaft, und so wie wir als Privatpersonen nicht die Welt retten können, kann Österreich das auch nicht alleine. Es muss sich diesen Aufgaben als Teil einer Gemeinschaft stellen, und diese kann nur eine eigenständige, starke und in Vielfalt geeinte Europäische Union sein.

Auch wenn die anstehenden Herausforderungen beängstigend sein können, haben wir eine Superkraft, die keine Generation vor uns je hatte: Als Digital Natives sind wir die erste Generation, die mit dem rapiden technologischen Fortschritt mithalten kann und grundsätzlich offen für die Veränderungen der Digitalisierung ist. Das ist für diese Zeiten des Umbruchs essenziell. Die digitale Transformation kann ein Schlüssel für alle Krisen, allen voran die Klimakrise, sein. Dafür müssen wir den Fortschritt aktiv gestalten, und das geht nur mit einer klaren europäischen Haltung.

Vereint gegen Tech-Giganten

Die Herausforderungen der digitalen Transformation sind vielfältig; kaum ein Lebensbereich ist nicht davon betroffen: Wie gehen wir mit dem Datenschutz um? Wie bauen wir unsere Infrastruktur auf? Wie schaffen wir die Gratwanderung zwischen Innovation und Regulierung? Wie nutzen wir die Chancen der Digitalisierung, um sie als Werkzeug gegen die Krisen unserer Zeit einzusetzen?

Auch wenn die Umstände nicht exakt die gleichen sind, vergleiche ich diese Zeit des Umbruchs gerne mit der Industriellen Revolution. Dieser Umbruch, die Art, wie wir leben, arbeiten und kommunizieren, ist, wie auch damals, in einem stetigen Wandel. So wie sich damals die Arbeiterschaft dafür engagiert hat, die neue Arbeitswelt so frei von Ausbeutung wie möglich zu gestalten, braucht es jetzt eine breite digitale Bewegung, um den Fortschritt unserer Zeit zum Wohle aller zu gestalten. Wir brauchen Spielregeln, nach denen sich die Transformation entwickeln kann.

Wie wir zu diesen Regeln kommen, liegt klar auf der Hand: gemeinsam in einem starken Europa, das Menschenrechte und Meinungsfreiheit hochhält, Partizipation zulässt und Demokratie schützt. Ein einfaches Beispiel: In fast allen Bereichen der Digitalisierung sind wir von großen Tech-Giganten abhängig. Es wäre unvorstellbar, sich diesen als Einzelpersonen zu stellen. Auch als Nationalstaat wären wir dem nicht immer gewachsen.

Süleyman Zorba ist IT-Techniker. Der gebürtige Türke kam im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern nach Österreich. Seit Oktober 2019 ist er grüner Abgeordneter im Nationalrat und Sprecher für Digitalisierung, Netzpolitik und Lehre.
© Karo Pernegger

Vor kurzem wurden zwei wichtige Vorhaben auf europäischer Ebene vorgestellt: der "Digital Services Act" und der "Digital Markets Act". Mit dem "Digital Services Act" gehen wir erstmals europaweit gegen Hass im Netz, Desinformation und intransparente, manipulative Algorithmen in Sozialen Medien vor. Passend dazu schränken wir mit dem "Digital Markets Act" die Marktmacht der Tech-Giganten ein, indem wir es ihnen erschweren, Nutzerinnen und Nutzer in ihr Ökosystem einzusperren. Diese Maßnahmen sind bei Internet-Riesen natürlich unbeliebt, weil sie einen direkten Angriff auf ihr Geschäftsmodell darstellen. Allein die Vorstellung, dass solche Maßnahmen möglich sind, wäre auf nationalstaatlicher Ebene absurd. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern konnten wir Wunschdenken in Realität verwandeln. Ähnlich ist es beim Umgang mit Künstlicher Intelligenz. Entweder wir gestalten aktiv, wie wir diese Technologie nutzen, etwa um die Klimakrise zu bekämpfen, oder wir sehen zu, wie wir von den Entwicklungen überwältigt werden.

Wir werden die bevorstehenden und schon vorhandenen Krisen nicht ohne die Digitalisierung mit all ihren Chancen und Risiken lösen können. Auf einem Planeten mit begrenzten Ressourcen und stetig wachsender Bevölkerung wird die Optimierung von Prozessen mithilfe der Digitalisierung ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg sein. "Digital Services Act" und "Digital Markets Act" zeigen, welche großen Herausforderungen wir anpacken können, wenn wir in Europa gemeinsam an einem Strang ziehen. Bei der Lösung der großen Fragen, die die Fähigkeiten seiner Nationalstaaten übersteigen, kann Europa, auch über seine Grenzen hinaus, am meisten bewirken. Mit dem Gesetzespaket haben wir Pionierprojekte in der Regulierung übermächtiger Konzerne gestartet, die für andere Länder und Regionen zum Vorbild werden könnten, sobald sie volle Wirkung entfalten.

Wenn es gelingt, können auch unsere Antworten auf die noch anstehenden Herausforderungen zu solchen Pionierprojekten werden. Dazu gehört vor allem der digitale Umbau unserer Bildungssysteme. Hierbei sind zwei Felder besonders wichtig: IT- und Medienkompetenz. Aktuell steckt Europa in einer digitalen Doppelabhängigkeit: bei Hardware von Asien, bei Software vor allem von den USA. Wollen wir uns daraus lösen, müssen wir den kommenden Generationen von Beginn an IT-Kompetenzen vermitteln, um Europa als eigenständige Digitalmacht zu etablieren. Es braucht Lehrpläne, die Europa einerseits ermächtigen, selbständig digitale Infrastruktur aufzubauen, und andererseits seine Bevölkerung so schulen, dass Desinformation und Verschwörungstheorien nicht auf fruchtbaren Boden fallen.

Die Probleme, die wir lösen müssen, sind komplex, und unser Erfolg hat entscheidende Auswirkungen auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Der Druck ist groß, aber die Menschheit hat bisher jede große Herausforderung mit Zusammenarbeit besser bewältigen können als im Alleingang. So verhält es sich auch auf der Staatenebene. Überall dort, wo unsere Möglichkeiten an die Grenzen der Nationalstaatlichkeit stoßen, müssen wir als ein vereintes Europa zusammenarbeiten.

Die EU erlebt eine Zeitenwende. Der Ukraine-Krieg lässt alte Gewissheiten schwinden und zwingt Europa, sich nach innen und außen neu aufzustellen. Die EU muss widerstandsfähiger, solidarischer und grüner werden. Dabei sind junge und neue Ideen gefragt. Zukunftsweisende Entscheidungen sollten nicht ohne jene getroffen werden, die ihre Folgen erleben und das Europa von morgen gestalten werden. In einer Sonderserie veröffentlicht die "Wiener Zeitung" in unregelmäßiger Folge Beiträge junger Europäerinnen und Europäer unter 30 Jahren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft. Sie stammen aus dem Buch "Unter 30! Junge Visionen für Europa", das die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) soeben im Czernin-Verlag herausgegeben hat.