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Geschichte verstehen heißt Europa verstehen

Von Stefan Haböck

Gastkommentare

Die paneuropäische Idee feiert ihren 100. Geburtstag. Sie ist angesichts des Krieges gegen die Ukraine so aktuell wie lange nicht mehr.


"Politiker müssen Geografie und Geschichte lernen", war einer der Leitsätze Otto Habsburgs, der am 20. November seinen 110. Geburtstag gefeiert hätte. Wissen um die Geschichte Europas, Verständnis für Kulturen sowie Toleranz zwischen Völkern sah er als unabdingbar an. Historische Zusammenhänge zu kennen und daraus Entwicklungen für die Zukunft ableiten zu können, war das Fundament seines politischen Wirkens. So warnte er schon, dass Wladimir Putin nach den osteuropäischen Staaten greifen würde, als dieser noch am Beginn seiner weltpolitischen Karriere stand.

1995 forderte Habsburg die westliche Gemeinschaft auf, die Unabhängigkeit der Ukraine zu gewährleisten, da diese stets gefährdet sein würde. Zu jenem Zeitpunkt war das Budapester Memorandum noch kein Jahr alt. 2014 erfolgte der Überfall auf die Ukraine.

Um Habsburgs Europa-Gedanken zu verstehen, muss man verinnerlichen, auf welchem philosophischen und politischen Europa-Konzept die Ideen jenes Mannes fußten, der zwei brutale Weltkriege, das Gift des Nationalismus, den Untergang einst mächtiger Reiche und die Geburt des vereinten Europas erlebte. Mit der "alten Reichsidee" sah Habsburg eine übernationale Werte- und Rechtsordnung, in der Völker frei zusammenleben können, das Subsidiaritätsprinzip verwirklicht ist, verschiedene Sprachen, Kulturen und Volksgruppen beziehungsweise Minderheiten geschützt sind. Diese Idee sah er als konkreten Gegensatz zum Universalanspruch zentralistischer oder nationalistischer Kräfte, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg das preußische oder das zaristische Reich darstellte. In diesen Reichen unterwarf eine dominierende Macht alle Völker.

Bei Mitteleuropa, das er als historisch gewachsenen, aber nicht in klaren Grenzen definierten eigenständigen Kulturraum verstand, war er ebenfalls ein entschiedener Gegner von Hegemonialmächten und lehnte daher auch Mitteleuropa-Modelle (unter anderem jenes von Friedrich Naumann aus dem 1915) ab, in dem Deutschland als Hegemonialmacht die Region dominiert hätte. Für die Gleichberechtigung und Souveränität der Völker Mittel- und Osteuropas, die bis 1990 vom Sowjetregime unterjocht waren, setzte er sich zeitlebens ein, mit den Dissidenten und Demokratiebewegungen war er in engem Austausch und unterstützte sie vor allem in seiner Zeit im EU-Parlament. Dies auch aus seiner tiefsten Ablehnung jeglicher totalitären Machtverhältnisse heraus. Konsequenterweise war ihm Nationalismus, der sich aus Ablehnung anderer speiste, ein Gräuel. Er bevorzugte Patriotismus, bei dem man Liebe zu seiner Region oder Europa zeigen kann, ohne andere dabei abzuwerten.

Als unverzichtbares europäisches Grundprinzip betrachtete Habsburg auch das Subsidiaritätsprinzip - jenes heutzutage viel zu oft vergessene oder durch Nationalisten und Zentralisten verkehrte Prinzip, das allen Ebenen die Aufgaben zuweist, die dort am besten gelöst werden können - vom individuellen Bürger bis hinauf zu Europa.

Wie Habsburg auf die vielfältigen Krisen Europas und der Welt heute reagiert hätte, wissen wir nicht. Jedenfalls hätte er historische und geografische Zusammenhänge analysiert und eine wertebasierte Politik mit einem klaren moralischen Kompass gefordert. Der starke Zusammenhalt Europas bei der Unterstützung der Ukraine hätte ihm jedenfalls gefallen.