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Die Kathedrale des Lebens

Von Karl Pangerl

Gastkommentare
Karl Pangerl ist BHS-Lehrer in Oberösterreich. Er war Mitglied des Europäischen Forums Alpbach und ist seit 2001 Unesco-Schulreferent.
© privat

Die Dynamik des Umbruchs gilt es in nutzbringende Bahnen zu lenken.


Wie die Erbauer der gotischen Kathedralen legen die Generationen heute das Fundament für ein kulturelles Gebäude, dessen Beginn krisenhaft gewahr wurde, dessen Dimensionen bestenfalls zu erahnen sind und dessen glückliche Vollendung nur erhofft werden kann.

Renaissance - Wiedergeburt: Sie markiert den Ausgang aus einer starr und käuflich gewordenen religiösen Geborgenheit. Die folgende Aufspaltung der Einheit von Innenwelt, Außenwelt und Transzendenz entfesselt in der Trias von Politik, Kunst und Wissenschaft eine Dynamik, die den Menschen an seine Grenzen und darüber hinaus führt: in ideologischem Wahn zur Menschenverachtung; in der Kunst an seinen Ursprung als Frage; in Mikro- und Makrokosmos zum Bild einer Welt, das ergriffenes Staunen ebenso evoziert wie schlimmste Dystopien.

Die Vertreibung aus einer Heimat stellt ein traumatisches Ereignis dar. Zugleich bedeutet jede Geburt einen zutiefst schöpferischen Akt des Menschen als Ausdruck eigener Wirkmächtigkeit. In alledem, was wir krisenhaft erleben, liegen die Keime der Erneuerung: Selbstwert, Wahrhaftigkeit, Gemeinschaft, Engagement. Die Dynamik des Umbruchs freilich gilt es in nutzbringende Bahnen zu lenken:

Jede Zäsur ist mit Verlusten verbunden. Der Aufbruch in neue Welten kann nur gelingen, wenn er von der Stimme des Gewissens geleitet und in Balance gehalten wird. Immanuel Kant formulierte dieses dualistische Wesen von Freiheit: ". . . der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir." Als wertvoll Erkanntes ist zu bewahren oder zu erneuern. Die treibende Kraft des Idealismus muss mit dem menschlichen Maß des Pragmatismus einhergehen - er ermöglicht Sinn, Orientierung und stiftet konkret erfahrbaren Nutzen bei der Gestaltung des Lebens.

Fortschritt erweist sich als Kultur wechselseitiger Verstärkung - und Rückkoppelung - im Kräftedreieck von Individualität in Freiheit und Resilienz, Gemeinschaftspflege und Innovation. Mit Viktor Frankl eröffnen aus diesem Spannungsfeld die Fragen, die das Leben stellt, jedem und jeder ihre Möglichkeitsräume. Medien und Politik generieren dafür ein Klima der Motivation, indem sie durch Information und Diskussion inspirieren sowie durch Empathie, Moderation und Koordination modulieren. In schöpferischer Verantwortung findet so der Mensch zum Tun, durchbricht die Gesellschaft die Nebel der Krise und wird Weg.

Der UN-Weltgipfel von Rio 1992, die Nachhaltigkeitsziele, die vielen Klima- und Artenschutzkonferenzen skizzieren den Bauplan für diese Kathedrale des Lebens. Gerade weil Bio-, Gen- und Quantentechnologie, Künstliche Intelligenz und Raumfahrt neue Dimensionen eröffnen, steht ihr Bau symbolhaft dafür, die Kräfte von Markt und Geopolitik im Gleichgewicht zu halten, indem er Getrenntes zur Synthese führt: die Kunst, die den Menschen als Geheimnis erkennt; die Wissenschaft als Vermittlerin der Einzigartigkeit allen Lebens; der Glaube, der das Wunder der Schöpfung bewahrt; und eine Demokratie, die im Miteinander von Politik und Volk Freude und Strahlkraft aus jenen Abenteuern entfaltet, welche unsere Reise durch die Zeit in Erzählungen verwandeln.