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Politökonomie des Scheiterns

Von Harald Oberhofer

Gastkommentare
Harald Oberhofer ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien und forscht am Wifo.
© Roman Reiter / WU

Wer wiedergewählt werden will, muss kurzfristige politische Erfolge verbuchen.


Das wohl bekannteste Zitat des britischen Ökonomen John Maynard Keynes lautet: "In the long-run we are all dead." Aus rein biologischer Sicht ist dieses Zitat banal. Für das wissenschaftliche Verständnis menschlicher Entscheidungen liefert es allerdings einen wichtigen Anhaltspunkt. Wir sind nämlich kognitiv nicht sehr gut in der Lage, über die Konsequenzen unserer Handlungen jenseits des eigenen Planungshorizonts hinauszudenken. Die Folge: Die Gegenwart ist uns ökonomisch viel mehr wert als die Zukunft. Oder, wie es Karl Marx im Kapital in Anlehnung an König Ludwig XV. ausgedrückt hat: "Après moi, le déluge", also "Nach mir die Sintflut".

Für PolitikerInnen gilt dies insbesondere. Während das Wahlvolk zumindest die eigene Lebensdauer in der Entscheidungsfindung berücksichtigt, denken unsere gewählten RepräsentantInnen in Wahlzyklen. Wer wiedergewählt werden will, muss kurzfristige politische Erfolge verbuchen. Entscheidungen, die das Leben der Bevölkerung erst nach der nächsten Wahl positiv verändern, können die Wiederwahlchancen nicht verbessen. Sehr langfristig angelegte Reformen sind in der Bevölkerung im Gegenteil sogar tendenziell unpopulär.

Eine Vielzahl an politischen Themengebieten leidet unter diesem Dilemma. Zu den wichtigsten davon zählen aktuell die Umwelt- und Klimapolitik, Wissenschafts- und Forschungspolitik sowie die Bildungspolitik und die Pensionspolitik. In all diesen Bereichen werden Maßnahmen erst mittel- bis langfristig ihre Wirkung entfalten und sind damit politisch wenig attraktiv. Mit Ausnahme der Umweltpolitik erhalten sie nur wenig Aufmerksamkeit. Die negativen Folgen des Klimawandels werden aktuell immer deutlicher sicht- und wahrnehmbar. Aus der Zukunft wird die Gegenwart, und dies macht politisches Handeln alleine schon aus Wiederwahlmotiven attraktiver. Das Problem bei verzögert wirkenden Maßnahmen ist, dass sie in so einer Situation sehr wahrscheinlich zu spät gesetzt werden, um die intendierten Veränderungen noch rechtzeitig herbeiführen zu können. In den anderen erwähnten Bereichen gibt es unterschiedliche politökonomische Gründe für das politische Nichthandeln. Zum einen herrscht Angst vor einer großen WählerInnengruppe und deren Reaktion auf mögliche Reformen. Zum anderen werden die positiven Folgen eines besseren und moderneren Bildungssystems nicht von heute auf morgen sichtbar. Ähnlich verhält es sich in der Wissenschaftspolitik. Wir werden langfristig andere Technologien, Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigen. Heute bereits in die Wissenschaft zu investieren, bringt jedoch kaum Stimmen bei der nächsten Wahl.

Solange wir WählerInnen in unserem Entscheidungskalkül nicht über die kurzfristige Eigenbetroffenheit durch Politik hinausdenken, haben politische Akteure keinen Anreiz für langfristig wirkende Politikmaßnahmen. Nur wenn langfristige Fragen und deren Lösungen demokratische Wahlen entscheiden, kann man sich eine andere Politik erwarten. Bis dahin werden wir gesellschaftlich an langfristigen Lösungen scheitern, mit allen negativen Folgen und Kosten, die damit verbunden sind.

So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.