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Die Sache mit dem Veto

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Das Hauptproblem der EU ist die schleichende Erosion des rechtsstaatlichen Prinzips.


Fast immer, wenn ein EU-Staat in einer ihm wichtig erscheinenden Frage sein Vetorecht androht oder gar ausübt, wie jüngst Österreich in der Frage des Schengen-Beitritts von Bulgarien und Rumänien, geht das gleiche Theater los: Das sei antieuropäisch, egoistisch und nationalistisch. Meist verbunden mit der Aufforderung an den als "Blockierer" Denunzierten, nicht länger herumzuzicken und der Mehrheit nachzugeben.

Das mag - unabhängig davon, wie berechtigt das jeweilige Anliegen ist - emotional nachvollziehbar sein, offenbart aber ein in der EU und ihren Institutionen leider immer stärker verbreitetes problematisches Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Denn die bekennt sich, historisch erklärbar, in vielen Politikfeldern zum Prinzip der Einstimmigkeit. Und solange dieses Prinzip gilt, ist es aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit zu respektieren, und zwar auf Punkt und Beistrich und ohne Androhung von Repressalien. Und vor allem auch unabhängig davon, ob eine europäische Großmacht wie Deutschland oder Frankreich oder ein kleinerer Staat sich dieses Rechtes bedient.

Deshalb irrt Othmar Karas (ÖVP), der im Körper eines Christdemokraten geborene Herz-Jesu-Sozialist und Vizepräsident des EU-Parlaments, wenn er das Veto aus Wien "unverantwortlich und unsäglich" nennt - die Bundesregierung macht nicht mehr oder weniger, als ihr zusteht, und hat das vor niemandem zu verantworten als dem österreichischen Souverän.

Es gibt natürlich gute Argumente gegen das Einstimmigkeitsprinzip, allen voran massive Effizienzverluste und den Zwang zum Kompromiss. Dieses Problem ist aber rechtsstaatlich nicht dadurch zu lösen, dass jeder gemobbt wird, der vom Vetorecht Gebrauch macht - sondern dadurch, dass die EU-Verträge eben entsprechend geändert werden. Das Gesetz der Rechtsstaatlichkeit partiell zu ignorieren, ist leider seit Jahrzehnten schlechter Brauch in der Union. So gab es seit 2004, angefangen von Deutschland und Frankreich, nahezu 200 Verstöße gegen die Maastricht-Regeln zu höchst zulässigen Staatsverschuldung und maximal erlaubten Budgetdefiziten - ohne dass es je die dafür vorgesehenen Sanktionen gegeben hätte. Das ist, als wäre Bankraub verboten, aber kein einziger namentlich bekannter Bankräuber würde je von der Justiz behelligt. Ähnliches trifft auf viele andere, teils existenzielle rechtliche Tatbestände zu. Ungarn etwa verstößt derzeit klar gegen EU-Recht, indem es illegale Migranten einfach in Richtung Österreich durchwinkt - ein klarer Verstoß gegen die Verträge von Schengen und/oder Dublin -, aber die EU-Kommission, die "Hüterin der Verträge", hütet nicht, sondern schaut weg, wie bei anderen EU-Staaten ja auch. Und die EZB, ebenfalls Teil des europäischen Institutionengefüges, ist zwar gesetzlich verpflichtet, den Geldwert stabil zu halten, betreibt aber lieber verbotene Staatsfinanzierung. Sanktion: genau keine.

Der europäische Rechtsstaat verkommt immer mehr zu einer Art unverbindlicher Verwendungszusage; einer Manövriermasse im (teilweisen) Widerstreit legitimer nationaler Interessen. Und das wiegt schwerer, als ob Rumänien im Jänner oder im Juli Teil des Schengen-Raums wird.