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Was braucht die Schule wirklich?

Von Zoltan Peter und Manfred Zentner

Gastkommentare

Demnächst tritt eine Bildungsreform in Kraft. Es ist Zeit, über das Schulsystem nachzudenken.


Insbesondere im Kontext der Mittelschule lassen sich seit längerem zahlreiche krisenhafte Phänomene identifizieren: Lehrermangel, Schulstress, Lerndruck, Mobbing, psychische Probleme und Gewaltausbrüche sind Aspekte, mit denen die Lehrkräfte tagtäglich konfrontiert sind - und das oft in einem Ausmaß, dass ihnen kaum noch Zeit für das Wesentliche bleibt. Es stellt sich daher die Frage, ob und inwiefern die Debatten rund um die Schule - und nicht zuletzt um die im Jahr 2023 in Kraft tretende Bildungsreform - Ansätze zur Verbesserung der angespannten Sachlage enthalten.

Hierzu sind zwei Aspekte von Belang: Erstens ist zu vergegenwärtigen, dass - von einigen Ausnahmen abgesehen - das derzeitige Lehrpersonal vorbildlich offen ist. Lehrkräfte sind im hohen Ausmaß liberal, und die Mehrheit geht auch mit Weltanschauungen, die sie nicht unbedingt präferiert, weitgehend tolerant um. Andererseits sind aber die in unserem jüngsten Projekt konstatierten Schul- und Weltbeziehungen der Lehrer nicht selbstverständlich. Die mächtigen Einflüsse von Wirtschaft, Politik und/oder Medien gehen an niemandem spurlos vorüber - auch nicht am Bildungssystem und am Lehrpersonal. Insbesondere Wirtschaft und Politik sind schon länger von der Idee besessen, die Welt ließe sich durch eine kontinuierliche Steigerungs- und Beschleunigungslogik, also durch gesteigertes Konsumverhalten, stabilisieren; eine Prämisse, die der Soziologe Hartmut Rosa als eine der Ursachen zahlreicher Krisen interpretiert. Demokratie wie Schule hat diese Beschleunigungsspirale spürbar erfasst; von einer einflussreichen Erzählung, die in etlichen Punkten von den Beziehungen der Lehrer und auch der Schüler zur Welt abweicht und ihnen sogar widerspricht.

In den Diskussionen rund um das Schulsystem lassen sich drei Positionen unterscheiden: Die erste vertreten jene, die ihre privilegierte Stellung und den damit einhergehenden höheren Bildungsstand innerhalb des aktuellen, besonders leistungsorientierten Bildungssystems nicht als solche erkennen. Sie verorten die Verantwortung für misslungene Schullaufbahnen weniger im Bildungssystem als bei den Eltern, vorwiegend bei deren vermeintlich mangelnden Bildungsinteressen, die sie auf ihre Kinder übertragen.

Einer anderen, konträren Position nach liegt eines der größten Probleme rund um die Schule darin, dass sich unterprivilegierte Schichten wichtige Codes schulischer Sprache innerhalb des familiären Kreises nicht aneignen können. Sie haben es somit im Schulbetrieb deutlich schwerer als die anderen. Lehrkräfte sollten daher den Lehrstoff dem niedrigeren Wissensstand der unterprivilegierten Schichten didaktisch besser anpassen, ansonsten werde es Chancengleichheit niemals geben. Für diese wie für die erste Position spielen Bildungskapital und Erfolg im Leben eine besonders große Rolle.

Für die dritte, sich erst im Aufstieg befindende Position zeichnet sich eine gute Schule nicht durch Leistung und Leistungsdruck aus. Stattdessen sollte es in der Schule mehr "Aha-Effekte" geben; Ereignisse, "die auch Jahrzehnte nachwirken"; sie "verdanken sich jenen Momenten, wenn Lernende in Beziehung zueinander oder mit etwas geraten, wenn sie getroffen und betroffen sind" (Zitate aus "Die bessere Welt in der Schultüte", "Standard", 7. September).

Weniger Ressourcen, mehr Sympathie in der Klasse

Das Bildungsgeschehen in der Schule hänge, so die These der zuletzt skizzierten Position, wesentlicher von der Qualität der Interaktionen als von den Ressourcen der Schule, der Schüler und der Lehrkräfte ab. Davon, ob das intrinsische Interesse der Lernenden für den Lehrstoff geweckt werde und ob sie sich von den Lehrenden angenommen fühlten. Schafften es Eltern und/oder Schule, die Kinder dafür zu sensibilisieren, der Welt offen, empathisch und kooperativ zu begegnen, so Rosas These, würde nicht bloß deren Freude an der Schule wachsen, sondern auch das Ausmaß ihres Bildungskapitals und Erfolgs, weil empathische, offene, resonante Beziehungen und folglich gelingende Schule weniger die Folge als vielmehr die Ursache der Kapitalausstattung und des Erfolgs seien.

Wenn es also eines Tages auch über die Wichtigkeit intakter Beziehungen im Schulbetrieb so starke Übereinstimmung gäbe wie über die Notwendigkeit der Kapitalausstattung der Schule und der Schüler, würde die gewünschte Inklusion aller Kinder ins Schulsystem eher gelingen. Die Grundidee der gesamten dritten Position ist einfach. Sie nimmt an, dass es im Leben des Einzelnen sowie auch in der Gesellschaft nicht vorrangig darauf ankomme, mithilfe vom Wissenskapital bedeutende Positionen zu erobern, sondern viel mehr auf intakte Beziehungen zu den Menschen und Dingen.

Der Lerndruck ist hoch, so empfinden es jedenfalls viele Schulkinder, und das nicht nur in den Mittelschulen. Eine bildungsnahe Mutter berichtete uns unlängst, dass "sich unser Leben weiter um Französisch-Vokabelwiederholung und Biologie- und Lese-Tests dreht. Meine Tochter meinte gestern zu mir: ‚Jetzt werde ich bis zur Matura nie wieder einen Tag haben, wo ich nichts zum Lernen habe.‘ Naja, so schlimm wird es nicht sein, aber trotzdem klingt es deprimierend." Und wenn wir unsere eigenen Kinder darauf ansprechen, so werden wohl viele Eltern Ähnliches zu hören bekommen.

Es wäre ungerecht, zu behaupten, dass es in dem Entwurf der Bildungsreform keine verwertbaren Ansätze zur Verbesserung der Lage gibt. So sind etwa in den Mittelschulen eine "verstärkte Individualisierung des Lernprozesses" und auch ein "individualisiertes Lerntempo" vorgesehen. Ob es damit allerdings zu einer Etablierung resonanter Beziehungen kommen kann, ist auch von den Zielen abhängig, die Gesellschaften ihren Schulen vorgeben. Neben dem Erwerb von Fachkompetenzen wurden jedenfalls auch die Wichtigkeit der Kreativität, der künstlerischen Bildung und eine verstärkte Anbindung von sozialarbeiterischer Unterstützung in den Entwurf einkalkuliert.

Die Frage nach einem Gelingen von Pädagogik und Leben, die für Lehrkräfte und Schüler vordergründig sein sollten, wird allerdings nicht thematisiert. Sie wird durch die Frage nach der nachhaltigen und zukunftsfähigen Lebensgestaltung substituiert - wobei die Formulierungen "nachhaltig" und "zukunftsfähig" den Eindruck einer gewissen Instrumentalisierung von Schülern und Lehrern für soziale und wirtschaftliche Zwecke erwecken können. Es wäre aber vermessen, von einem weitgehend mit der Wirtschaft und Politik verschränkten Schulsystem reine soziologische und bildungswissenschaftliche Ansätze zu erwarten. Nur: In einer globalisierten Welt, in der sich neben dem Wirtschafts- auch unser Bildungssystem mit China einen rasend schnellen Wettlauf liefert, bleiben die menschlichen Beziehungen - und damit die Kinder - auf der Strecke. Das sollte nicht so sein. Bei der Suche nach der Lösung aus diesem Dilemma ist die gesamte EU gefragt.

Die Studie wird demnächst auf der Homepage der Donau Universität Krems online gehen. Im Moment ist sie als iBook zugänglich.