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Pflege ist Realwirtschaft

Von Alexandra Prinz

Gastkommentare
Alexandra Prinz ist Pflegefachaufsicht und hat ein abgeschlossenes Studium der Philosophie, Kultur- und Sozialanthropologie sowie einen Master-Abschluss in Advanced Nursing Practice. Sie war Direktorin einer Pflegeeinrichtung in der Schweiz. Sie hat ihre Master-Arbeit zur Freiberuflichkeit in der mobilen Pflege und zur Professionalisierung dieser Dienste verfasst.
© privat

Zu lange hat man Pflege und medizinische Versorgung kaputt gespart.


Fast täglich wird über fehlendes Pflegepersonal in Spitälern berichtet. Der Personalmangel ist seit vielen Jahren ein Thema. Nennenswerte Verbesserungen, die den Beruf nachhaltig attraktiv machen, gibt es kaum. Dass die Ausbildung für diplomierte Fachkräfte nun an Fachhochschulen stattfindet, führt weder zu mehr Personal beim Patienten noch zu einer besseren Versorgungsleistung im Langzeitpflegebereich, da die meisten Fachhochschulabgänger eine Tätigkeit im Krankenhaus vorziehen.

Jene, die eine Ausbildung als diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegeperson (DGKP) über eine Fachhochschule absolviert haben, berichten, dass kein Einziger des Ausbildungsjahrganges sich in der Praxis wiederfand. Genaue Zahlen dazu gibt es derzeit nicht. Vielen wird in den akademisierten Ausbildungslehrgängen der Fachhochschulen ein vollkommen praxisfremdes Bild über die Pflege vermittelt, sodass die jungen Menschen überfordert sind, sobald sie in der Realität des Pflegealltags ankommen und in alleiniger Verantwortung bei unmenschlichen Personalschlüsseln handeln müssen.

Über viele Jahre hinweg hat die Politik den Ruf nach notwendigen Entscheidungen und vor allem Reformen im Gesundheits- und Pflegewesen (Harmonisierung der Sozialgesetze, einheitliche Kalkulationsmodelle für die mobilen Dienste, Benchmarking der wesentlichen Kostenfaktoren etc.) ignoriert. Medial wird vorrangig das fehlende Personal in den Spitälern thematisiert. Vom Personalnotstand in Pflegeheimen und mobilen Diensten wird selten gesprochen, dabei entstehen dort gerade die größten Lücken, der Personalmangel führt immer wieder zu Unterversorgungen.

In Pflegeheimen werden Aufnahmesperren verhängt, weil es zwar Plätze gäbe, aber kein Personal. Gleiches hört man von mobilen Diensten. Jene, die an zentralen Anlaufstellen für Pflegevermittlung am Telefon arbeiten, berichten sogar von Morddrohungen, wenn sie verzweifelten Angehörigen nicht umgehend einen Pflegeplatz vermitteln können.

Derzeit wird vor allem über den Spitalskollaps gesprochen. Betroffene Patientinnen und Patienten berichten, dass über 80-Jährige im Krankenhaus keine adäquate Versorgung erhalten, wenn nicht Angehörige dahinter sind. Hausärzte, die Hausbesuche machen, gibt es in Wien kaum noch, aber auch in den Bundesländern fehlen vermehrt Nachfolger bei Pensionierungen. Viele alte Menschen, die sich nur noch mit Rollator fortbewegen können, besuchen keinen Arzt mehr, weil die Praxis nicht barrierefrei erreicht werden kann oder schlicht die physische Konstitution für einen Arztbesuch fehlt. Eine Aufstellung, wie viele Arztpraxen in Österreich behindertengerecht zugänglich sind, gibt es nicht. Kassenärzte sind zwar zu Hausbesuchen verpflichtet, haben aber immer weniger Zeit dafür.

Hauptsache billiges Personal

Der Personalmangel in Pflege und Medizin ist seit vielen Jahren bekannt. Doch hat man es verabsäumt, in professionelles Pflegepersonal zu investieren. Gut ausgebildetes Personal verlässt den Beruf ganz oder emigriert in Länder mit besserer Bezahlung (das gilt für ganz Europa). Dass die ÖVP Niederösterreich 150 Pflegepersonen ins Land holen will, die hier erst ausgebildet werden sollen, zeigt, wie verzweifelt man Pflegepersonal aus Billigländern anwirbt, um längst notwendige Reformen im Pflegewesen weiterhin auf die lange Bank zu schieben. In Privathaushalten übernehmen Betreuungskräfte aus sogenannten Drittstaaten (etwa Kosovo, Moldawien, Usbekistan etc.) um wenig Geld und außerhalb jeglicher Qualitätskontrollen die Personenbetreuung.

Im Gesundheitsberuferegister sind derzeit 108.650 diplomierte Pflegepersonen registriert. Tätigkeiten, die früher nur DGKP vorbehalten waren, werden nun an die jeweils billigere Berufsgruppe delegiert. Mittlerweile dürfen Pflegeassistenten Blut abnehmen (per Gesetz) und Tätigkeiten durchführen, die DGKP vor zehn Jahren nicht einmal lernen durften, obwohl sie im Gesetz standen. Damit will man sichergehen, dass man immer genug günstiges Personal hat, falls die DGKP zu teuer werden, weil sie nun an Fachhochschulen ausbildet werden. Da jedoch DGKP bis zum heutigen Tag allzu oft hauswirtschaftliche Tätigkeiten durchführen müssen, haben viele auch wegen der Kompetenzverzerrung den Beruf verlassen. Von permanenten Überstunden durch Einspringen, nicht planbarer Freizeit, schlechter Bezahlung oder inkompetenten Vorgesetzten ganz zu schweigen.

Aus der Praxis berichtet eine Krankenpflegeperson, die die Ausbildung über das AMS bezahlt bekam, dass sie sich nach Beendigung der Ausbildung für drei Jahre einem Arbeitgeber verpflichten musste. Nun steht sie am Ende der drei Jahre und wird den Beruf verlassen, weil die Zustände nicht mehr haltbar sind. Sie wird zum wiederholten Mal aufgefordert, im Pflegeheim hauswirtschaftliche Tätigkeiten zu verrichten. Der Auftrag der Pflegedienstleitung lautet: Bei Personalmangel muss das diplomierte Personal alles machen. Sie bedauert, dass es wenig Solidarität unter dem Pflegepersonal gibt, da besonders jene mit Migrationshintergrund eher dazu neigen, den Willen der Pflegedienstleitung zu erfüllen. Solidarität, Qualität und Widerstandsbestrebungen von einheimischem Pflegepersonal gegen missliebige Umstände, wie sie im Pflegeberuf seit vielen Jahren vorherrschen, werden wegen eigener wirtschaftlicher Vorteile selten unterstützt.

Akuter Notstand überall

Jüngst fand eine Pressekonferenz der professionellen Fachpflege in der 24-Stunden-Betreuung statt, da auch diese für immer weniger Menschen leistbar wird. Die Erhöhung der öffentlichen Förderung des Sozialministeriums von 550 Euro um 90 Euro deckt nicht einmal den Teuerungsausgleich ab, geschweige denn die im Gesetz vorgeschriebene Qualitätssicherung, die quartalsmäßig durchgeführt werden sollte. Ohne Qualitätskontrolle durch diplomiertes Fachpersonal kommt es zu nicht adäquater Wundversorgung, Kontrakturen aufgrund unsachgemäßer Lagerung oder gar vorzeitigem Ableben Pflegebedürftiger.

In allen Pflegebereichen (mobile Dienste, stationäre Langzeitpflege, Akutbereich, 24-Stunden-Betreuung) herrscht akuter Notstand. Pflegepersonal wird weder an Fachhochschulen noch über den Berufsverband bezüglich Empowerment geschult. Eine breit angelegte Solidarisierung von Pflegepersonen über alle Settings hinweg wurde bisher weder von der Gewerkschaft noch vom Berufsverband ins Auge gefasst. Professionelle Pflege ist den Geldgebern ein Dorn im Auge - und doch wird kein Weg daran vorbei führen. Zu lange hat man Pflege und medizinische Versorgung kaputt gespart. Nun wird man sich entscheiden müssen: Will man der alternden Bevölkerung eine qualitativ hochwertige Versorgung zur Verfügung stellen? Oder müssen sich Pflegebedürftige - und dazu zählen früher oder später alle - sich darauf einstellen, dass sie nicht mehr die Versorgung erhalten, die ihnen gebührt?

Pflege ist Teil der Realwirtschaft (so wie Bildung, Gesundheit, Soziales, Kultur) und darf nicht Private-Equity-Investoren überlassen werden. Menschen, die in diesen Bereichen tätig sind, werden durch die Digitalisierung nur bedingt ersetzt werden können, sofern man den Menschen nicht prinzipiell neu erschaffen will. Pflege muss im Spannungsfeld der derzeitigen Herausforderungen zwischen Wirtschaft, Politik und Globalisierung vollkommen neu gedacht und eben auch finanziert werden.

Bis 2026 hat die Bundesregierung für das Bundesheer, das 14.000 Berufssoldaten (davon etwa 13 Prozent Frauen) umfasst, 4,7 Milliarden Euro budgetiert. Dazu kommen noch weitere Ausgaben, zu denen sich Österreich im Rahmen der EU verpflichtet hat. Eine langfristige Finanzierung für die Pflege fehlt bis dato, es geht um fast eine halbe Million Pflegegeldbezieher und mehr als 170.000 Pflegekräfte (DGKP, Pflegeassistenten und Pflegefachassistenten), der Frauenanteil beträgt 80 bis 90 Prozent. Es ist keine Lösung, Frauen in MINT-Fächer zu lenken, weil in diesen Sparten besser bezahlt wird. Es ist Aufgabe eines demokratischen Staates, für eine Verteilung zu sorgen, bei der die Mehrheit von ihrer Arbeit gut leben kann, was bedeutet, dass auch Berufssparten, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind, gut bezahlt werden.