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Schulen zwischen Burnout und Blackout

Von Paul Reinbacher

Gastkommentare
Paul Reinbacher arbeitet nach einem Studium der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie diversen beruflichen Positionen in der Privatwirtschaft an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich in Linz.
© privat

Das allgemeine Interesse am Bildungssystem reicht kaum über Sonntagsreden und Stammtischparolen hinaus.


Viele Beobachter des österreichischen Schulsystems tendieren als Reaktion auf das, was sie dort zu sehen bekommen, entweder zu Kopfschütteln, Zähneknirschen oder Schulterzucken - je nachdem, ob sie eher am Rande davon betroffen sind (Eltern), sich mitten im Geschehen befinden (Lehrer und Schüler) oder nur für die Steuerung des Systems zuständig sind (Politik und Verwaltung). Dieser Eindruck entsteht zumindest bei einem Beobachter dieser Beobachter über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten.

Kaum jemand, der über Erfahrung aus beruflicher und/oder ehrenamtlicher Tätigkeit in anderen Bereichen, vor allem in anderen formal organisierten Systemen (wie Unternehmen und Vereinen) verfügt, versteht die Welt der österreichischen Schule. Voraussetzung dafür ist neben einem Blick für die Funktion bürokratischer Strukturen vor allem ein Sensorium für die vom schwedischen Organisationssoziologen Nils Brunsson als "organisierte Heuchelei" bezeichnete Entkopplung von Ankündigungen, Entscheidungen und Handlungen.

Ewige Wiederkehr

So war vor den Sommerferien an dieser Stelle schon von der österreichischen Bildungspolitik zu lesen, die es sich nicht nur im Juli und August in ihrer Ferienstimmung gemütlich zu machen scheint: Sie begnügt sich meist mit Kosmetik, statt überfällige Reformen in Angriff zu nehmen. Abgesehen von den vielen strukturellen Problemen im Schulsystem, die zwar hinlänglich bekannt, aber nur punktuell auch Gegenstand öffentlicher Debatten sind (und mittlerweile eher eine Art immaterielles "Weltunkulturerbe" darstellen), erreicht aktuell vor allem wieder einmal ein eklatanter Lehrermangel seinen vorläufigen Höhepunkt.

Wenngleich auch in Österreich kein gänzlich neues Phänomen (man denke an die 1970er), trifft diese "Wiederkehr von Überfüllung und Mangel" des 1985 von Hartmut Titze, Axel Nath und Volker Müller-Benedict für Preußen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert beschriebenen "Lehrerzyklus" die Schulbürokratie ähnlich überraschend wie der erste Schnee manch sommerbereiften Autofahrer: Weil ignorierte Probleme selten von selbst verschwinden, stellt sich die nachträgliche Schadensbehebung (nicht nur finanziell) als teuer heraus.

Die über mehr als ein Jahrzehnt mühsam erreichte Aufwertung der Pädagogenausbildung wird durch eine Vielzahl kaum zu überblickender Ausnahmeregelungen, von denen jede einzelne gute Chancen hat, als Dauerprovisorium längerfristiger Bestandteil des Systems zu werden, konterkariert. Hinzu kommt der Plan der Politik, den Personalmangel mit begleitend zur Unterrichtstätigkeit behelfsmäßig qualifizierten Quereinsteigern aus anderen Berufsfeldern sowie mit Lehramtsstudierenden zu kompensieren.

Endloses Warten

Die Rektorenkonferenz der Pädagogischen Hochschulen hat zwar unlängst öffentlich gewarnt, Studierende durch diese Doppelbelastung "nicht zu früh zu verheizen". Offen bleibt allerdings die Frage, wann der richtige Zeitpunkt wäre, um dem Lehrpersonal ein Burnout zuzumuten und so die prekäre Personalsituation zu prolongieren. Mittlerweile hat sich die Aufregung aber etwas gelegt, weil die Aufmerksamkeit nun für eine Reform der Reform der Lehramtsausbildung mit dem neuen Ziel einer kürzeren Studiendauer benötigt wird.

Während ein Wandel in den Tiefenstrukturen des Systems weiter auf sich warten lässt, ist die oberflächliche Veränderungsdynamik zunehmend schwer zu überblicken. Man denke an die Abschaffung der Hauptschule mit ihren drei Leistungsgruppen und die Einführung der (Neuen) Mittelschule mit ihrer Unterscheidung zwischen zwei Leistungsniveaus, oder an das neue Lehrerdienstrecht, das nun zwar explizit Arbeitszeit für Tätigkeiten außerhalb des Unterrichts vorsieht, aber weiterhin echte Leistungsgerechtigkeit vermissen lässt.

Böse Zungen behaupten angesichts solch tiefenstruktureller Trägheit, Österreichs Schulen, die laut ministeriellem Rundschreiben jetzt gerade Pläne für ein Blackout erstellen sollen, müssten auf ein solches Ereignis gut vorbereitet sein, da sie ohnehin über weite Strecken die "Kreidezeit" früherer Jahrhunderte noch nicht ganz hinter sich gelassen hätten und einer Elektrifizierung erst in geringem Maße bedürften (wenngleich Tafeln durch Smart-Boards und Overhead-Projektoren durch Beamer ersetzt worden sind).

Bleibt die Frage, wieso sich in Österreich abseits von Fassadenrenovierung kaum jemand für das im Kern baufällige, in Teilen bereits einsturzgefährdete Schulsystem zu interessieren scheint. Einen Teil der Antwort finden wir wohl in der unheilvollen Allianz aus Politikern einerseits und Wählern andererseits. Beherrscht von einer Logik der Umfragewerte, Aufmerksamkeitsökonomie und Legislaturperioden bleiben weder Raum noch Zeit für Ursachenforschung, kritische Analysen und langfristige Strategien. Das Interesse an Schule und Bildung reicht in unserer "Bequemlichkeitsgesellschaft" kaum über Sonntagsreden ("Wichtigste Ressource!", "Wettbewerbsfaktor der Zukunft!") und Stammtischparolen ("Zu lange Ferien!", "Zu wenig Arbeitseifer!") hinaus. Sobald es aber um Grundsätzliches wie Ressourcengerechtigkeit für Schulstandorte und Leistungsgerechtigkeit für Lehrer geht, scheinen naive Briefe ans Christkind auf mikropolitisch motivierte Antworten aus der parteipolitisch ausgerichteten Wichtelwerkstatt zu treffen.

Ein Weihnachtswunsch

Was daher unserem Schulsystem mit all seinen engagierten Lehrern, motivierten Schülern und interessierten Eltern sowie den zahlreichen anderen Anspruchsgruppen wie etwa den Universitäten und Hochschulen oder den zukünftigen Arbeitgebern in der Privatwirtschaft und den Dienstgebern im öffentlichen Bereich zunächst zu wünschen wäre, ist keine Liste mit gut gemeinten Reformvorschlägen, sondern eine Gesellschaft, die sich auf eine ernsthafte Diskussion über Schule und Bildung einlässt.

Voraussetzung für Veränderungen wäre nämlich eine solche argumentative Auseinandersetzung, die mehr ist als eine Suche nach Belegen für die Bestätigung eigener Vorurteile. Auf dieser Basis ließe sich weniger die Frage nach dem "richtigen" Bildungssystem stellen (und aus unterschiedlichen Perspektiven beantworten), sondern eher heute nach Fragen suchen, auf die Bildung morgen eine Antwort geben muss. Gerade seriöse Publikumsmedien wie die "Wiener Zeitung" sind für diesen Prozess wichtige Moderatoren.