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Wir müssen frühkindliche Entwicklung stärker fördern

Von Damita Pressl

Gastkommentare
Damita Pressl ist Moderatorin und Journalistin im Videoteam der "Neuen Zürcher Zeitung". Sie hat in London und Wien Psychologie und Journalismus studiert, mehrere Jahre lang ihre eigene TV-Diskussionssendung gestaltet und moderiert sowie aus Bosnien und Kroatien berichtet.
© Kronen Zeitung / Reinhard Holl

Auf EU-Ebene wie in den Nationalstaaten fließt das meiste Geld in die tertiäre Bildung. Das ist falsch.


Europa muss der weltweit beste Ort werden, an dem ein Kind aufwachsen kann. Von Rumänien, oder vielleicht bald von der Ukraine bis Portugal, von Irland bis Malta muss jedes Kind, das in einem Mitgliedstaat dieser Union zur Welt kommt, insbesondere in den ersten fünf Lebensjahren alle Chancen und Möglichkeiten erhalten, sich zu entfalten, seine Talente zu entwickeln und seine Leidenschaften zu entdecken. Wir schulden unseren Kindern nichts weniger.

Es ist schön, dass die Europäische Union Mehrsprachigkeit fördert, Austauschprogramme für Studentinnen und Studenten gestaltet und Jugendlichen Auslandserfahrungen ermöglicht. Doch darin spiegelt sich jene verkehrte Prioritätensetzung wider, die auch auf Ebene der meisten Nationalstaaten den Bereich der Bildungspolitik prägt. Die meiste Aufmerksamkeit und die meisten Ressourcen fließen in die tertiäre und sekundäre Bildung, wohingegen früh- kindliche Bildung meist vernachlässigt wird.

Damit machen unsere Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger das genaue Gegenteil von dem, was wissenschaftlich sinnvoll wäre. Das menschliche Gehirn entwickelt in den ersten zwei Lebensjahren seine grundlegende Struktur und Funktionsweise. Zweijährige haben doppelt so viele Synapsen wie Erwachsene. Nie wieder sind unsere kortikalen Neuronen so komplex wie zwischen unserem dritten und fünften Lebensjahr. In ihren ersten fünf Lebensjahren lernen Kinder, empathisch zu handeln und eignen sich sämtliche sozialen Fähigkeiten und emotionalen Kompetenzen an. Die potenzielle Hebelwirkung in den ersten fünf Lebensjahren eines Kindes ist enorm. Den bildungspolitischen Fokus auf diese Zeit zu setzen, spart später Millionen - Geld, das wir ohnehin dringend brauchen, um die Konsequenzen der Corona-Pandemie abzufedern, die Klimakrise zu bewältigen, unseren digitalen Nachzipf aufzuholen oder "einfach nur" den Frieden zu wahren.

Eigentlich wissen wir, was es braucht

Die optimalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, beginnt vor der Geburt. Wie viele Eltern wohl tatsächlich wissen, wie richtungsweisend die ersten fünf Jahre ihrer Kleinen sind? Wie viele wohl dem Irrtum unterliegen, die ersten paar Jahre zählten wenig, da man sich später ja ohnehin kaum daran erinnert? Das Konzept, Wohlfahrtsleistungen wie das Arbeitslosengeld an relevante oder oftmals auch weniger relevante, aber dennoch verpflichtende Schulungen zu koppeln, ist in mehreren EU-Staaten ein akzeptiertes Modell. Wo bleibt das Angebot wissenschaftlich fundierter, von medizinischen, entwicklungspsychologischen und bildungswissenschaftlichen Fachleuten konzipierter, hochqualitativer, aber dennoch zugänglicher Schulungen und Kurse zu Elternschaft und frühkindlicher Entwicklung? Familien, in denen beide Elternteile solche Angebote oder Kurse erfolgreich absolvieren, sollten einen monetären Anreiz erhalten: etwas mehr Familienbeihilfe oder Geburtengeld, als derzeit im jeweiligen EU-Mitgliedstaat üblich, aus Mitteln der Europäischen Union.

Was im Elternhaus beginnt, setzt sich in den elementarpädagogischen Einrichtungen unseres Staatenbundes fort. Hier entscheidet sich, ob unseren Kindern Freude am Lernen mit in die Wiege gelegt wird, ob sie ihre emotionale Intelligenz entfalten können, ob sie sich ausprobieren und ihre Talente entdecken dürfen - oder eben nicht. Eigentlich wissen wir, was es braucht: ordentlich entlohntes, hochqualifiziertes Personal, das unter fairen Bedingungen arbeiten darf, einen möglichst niedrigen Personalschlüssel, also möglichst viele Pädagoginnen pro Kind und möglichst kleine Gruppen, und das Anerkennen von Kindergärten und Vorschulen als das, was sie sind - die wichtigsten Bildungseinrichtungen überhaupt, und nicht etwa Kinderabgabestationen für arbeitende Eltern.

Einheitlich hohe europäische Standards fehlen

Auch an Vorbildern mangelt es nicht. In Finnland hat jedes Kind ab seinem ersten Geburtstag das Recht auf einen Kindergartenplatz. Zum Lehrerberuf wird ausschließlich das beste Zehntel der Bewerberinnen und Bewerber zugelassen. Schweden zahlt dem Lehrpersonal in Kindergärten und Volksschulen leistungsabhängige Boni aus, die die Attraktivität des Berufs erhöhen sollen. In Dänemark haben Elementarpädagoginnen, wenn sie die für den Beruf notwendige universitäre Ausbildung abschließen, bereits ein knappes Jahr Praxiserfahrung in Elementarbildungseinrichtungen gesammelt. Viele Länder machen einiges richtig, einheitlich hohe europäische Standards aber fehlen und sollten dringend geschaffen werden.

Die Forschung zeigt uns, dass gerade jene Kinder den größten Gewinn aus hochqualitativer Elementarbildung ziehen, die im Elternhaus nicht die besten Voraussetzungen vorfinden. Für die Entwicklung von Kleinkindern, die in behüteten, wohlhabenden und gesunden Verhältnissen aufwachsen, ist der Personalschlüssel einer Kindergartengruppe nachweislich nicht so wichtig. Aber gerade da, wo es am dringendsten und notwendigsten ist, kann Elementarbildung wirklich einen Unterschied machen: nämlich für jene Kinder, die zuhause kein Bücherregal vorfinden, deren Eltern die Landessprache nicht sprechen, die gegen Monatsende ohne Abendessen ins Bett gehen.

Und machen wir uns nichts vor, diese Kinder gibt es in Europa: Jedes fünfte Kind in Österreich wächst unter der Armutsgrenze auf. Mit dieser ernüchternden Statistik liegen wir leider gut im EU-Schnitt: Die EU-Kommission gibt an, dass im Jahr 2019 rund 22 Prozent der Minderjährigen in der Union in armutsgefährdeten Haushalten lebten. Vom "Europäischen Jahr der Jugend" können sich diese Kinder, wie mein Großvater gesagt hätte, auch keine Suppe kaufen.

Kinder sind der Grundstein unserer Gesellschaft

Kinder sind unsere Zukunft und der Grundstein unserer Gesellschaft. Bei kaum einem Thema herrscht so breiter politischer Konsens, sowohl über die Dringlichkeit der Herausforderungen als auch über die Tragweite der Entscheidungen und über die sinnvollsten Lösungswege. Dass dennoch so wenig geschieht und so langsam gehandelt wird, erlaubt nur eine Schlussfolgerung: Der politische Wille fehlt, weil Kinder nicht wählen.

Dass Familien- und Bildungspolitik vor allem Sache der Nationalstaaten ist, ist klar. Aber die Europäische kann einen Beitrag leisten, etwa, indem sie Anreize für Schulungen setzt und diese gestaltet und fördert, indem sie klare, wissenschaftlich fundierte Empfehlungen sowie "Best Practice"-Beispiele aufzeigt und jene Mitgliedstaaten fördert, die sich danach richten, und indem sie auf einheitlich hohe Standards in der Elementarbildung pocht. Schlussendlich können sich auch Kompetenzen verschieben; wenn wir einen europäischen Mindestlohn debattieren, dann können wir zumindest auch Mindeststandards im Bildungsbereich in Erwägung ziehen.

Der aus tragischen Gründen inzwischen weltweit bekannte ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat bei seiner Antrittsrede im Jahr 2019 gesagt: "Ich möchte nicht, dass mein Bild in Ihren Büros hängt. Der Präsident ist keine Ikone und kein Idol. Hängen Sie stattdessen Fotos Ihrer Kinder auf, und blicken Sie ihnen in die Augen, wann immer Sie eine Entscheidung treffen müssen." Mehr ist dem nicht hinzuzufügen - die älteren Herren, deren Gesichter derzeit die Räume unserer Amtsgebäude zieren, mögen mir verzeihen.

Die EU steht inmitten einer Zeitenwende. Die russische Invasion in der Ukraine lässt alte Gewissheiten schwinden und zwingt Europa, sich nach innen wie nach außen neu aufzustellen. Die EU muss vor allem widerstandsfähiger, solidarischer und grüner werden. Dabei sind junge und neue Ideen gefragt. Zukunftsweisende Entscheidungen sollten nicht ohne das Mitwirken jener getroffen werden, die ihre Folgen erleben und das Europa von morgen gestalten werden. In einer Sonderserie veröffentlicht die "Wiener Zeitung" in unregelmäßiger Folge Beiträge junger Europäerinnen und Europäer unter 30 Jahren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Medien und Zivilgesellschaft. Die einzelnen Texte sind dem Buch "Unter 30! Junge Visionen für Europa" entnommen, das die Österreichische Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE) soeben im Czernin-Verlag herausgegeben hat.