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Das richtige Maß finden

Von Wolfgang Glass

Gastkommentare
Wolfgang Glass ist promovierter Politologe und lebt in Wien.
© pivat

Wir sollten uns nicht nur auf den umfassenden Fürsorgestaat verlassen.


Die Politik lebt schon länger nach dem Grundsatz "Koste es, was es wolle", gleich welche Partei an der Macht ist. Das rechte Maß ist abhandengekommen. Alles soll optimiert werden, und das bedeutet in der Denkweise vieler auch immer gleich mehr Geld. Dass sich das Denken über diverse Begrifflichkeiten ändern sollte, wäre zu mühsam. Und wieso sollte bei der Privatperson etwas anderes gelten als in der Politik? Auch dort wird immer mehr optimiert.

Nicht erst seit Corona oder seit wir Wladimir Putins Launen ausgesetzt sind, wissen wir, dass das lineare Denken, das die Nachkriegsgeneration geprägt hatte, vorbei ist. Derzeit ist nicht klar, wohin der Weg geht. Es scheint, als ob auch der Wirtschaft nichts Nachhaltiges mehr einfällt, und so werden Emotionen angesprochen, um irgendeine neue Sau durchs Dorf zu jagen, hinter der dann wieder die Masse nachrennt. Es funktioniert derzeit auch noch, solange eigentlich noch niemand verzichten muss. Denn im Verzicht sieht die Mehrheit eher etwas Negatives als eine Chance. Mehr ist immer besser und "2 plus 1 gratis" ist auch automatisch besser. Umso mehr man haben kann, desto besser.

Dabei ist nicht näher definiert, was mehr ist, was für einen selbst Zufriedenheit bedeutet, oder was der Sinn des Daseins hier auf Erden eigentlich wäre. Lauter interessante Fragen, die ausschließlich individuell beantwortet werden können und sollten und auch Zeit in Anspruch nehmen, wenn man sich mit ihnen und mit sich selbst auseinandersetzt. In der Realität werden aber die Normen - also die Möglichkeiten, die es gibt, um sich an Dinge gedanklich annähern zu können - sehr oft normativ verstanden. Es muss also so sein. Und wenn man jemanden um einen Ratschlag bittet, wird oft darunter verstanden, dass man gleich die fix fertige Lösung haben möchte. Stattdessen sollte ein Ratschlag eigentlich die Möglichkeit bieten, dass man jemanden beim Denken hilft, wo er oder sie gerade nicht mehr selbst weiterkommt. Wenn man nicht selber denken lernt, lernt man nur das Maß und die Gedankenwelt der anderen kennen, nie die eigenen Grenzen und Bedürfnisse, die für ein zufriedenes Leben und in weiterer Folge ein gutes Gesellschaftsmitglied, wesentlich sind.

Freizeit sollte Freude machen

Der eigentliche Sinn der Freizeit ist die Pause. Sie dient der Erholung und der freien Gestaltung der Zeit nach Lust und Laune. Da kann man etwas im eigenen Tempo nacharbeiten oder etwas Neues entwickeln. Dazu ist die Kenntnis der eigenen Grenzen wichtig. Spürt man diese nicht, gerät man in Stress. Sollten auch noch Kinder im Spiel sein, ist es doppelt fatal. Sie werden heute oft durch die Welt geleitet und treffen auf das, was die Eltern vorbereitet haben. Ihre Wege sind sehr strukturiert. Leider herrscht oft die Meinung vor, viele Freizeitaktivitäten kämen einer Optimierung in verschiedener Hinsicht gleich. Den Mut zur Lücke haben viele nicht. Im Gegenteil: Die Anforderungen an die Leistung der Kinder in der Freizeit nehmen eher zu.

Hier geht es freilich um den Mittelstand, nicht um Menschen am Rande der Armut, sondern um jene immer noch sehr große Menge, der es zum Glück monetär sehr gut geht, auch wenn viel geraunzt wird, weil der andere mehr zu haben scheint. Die Schuld liegt natürlich immer woanders. Dabei ist unserer Gesellschaft insgesamt noch nie so gut gegangen wie heute. Wir haben Möglichkeiten, selbst zu entscheiden, die man in anderen Ländern nicht hat. Dass nach längerer Zeit der Trägheit und der Unwilligkeit der Selbstentscheidung sich dann Probleme gleich welcher Art einschleichen können, ist klar. Aber dann sollte man nicht immer die Schuld beim anderen sehen. Und ob man Kinder hat oder nicht und deshalb dann weniger Geld zur Verfügung hat als ein Single, sollte auch als eigene Entscheidung wahrgenommen werden. Das ist schon eine große Verantwortung, die man übernimmt, aber bitte nicht leichtfertig.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer spricht von einer kritischen Masse von rund 5 Prozent der Menschen in allen Bereichen, die den Unterschied ausmachen, also neue Richtungen für die Masse vorgeben könnten. Es ist zu befürchten, dass es, wenn sich die Mehrheit der Bevölkerung weiterhin auf die Ersatzmutter Staat verlässt und darauf hofft, dass es immer irgendwie in derselben Tonart weitergeht - dass also mit Förderungen gleich welcher Art Bedürfnisse befriedigt werden -, irgendwann gewaltig scheppern wird. Denn wenn Menschen, die es nicht gewohnt waren, auf etwas zu verzichten, plötzlich massive Einbußen haben, werden sie grantig. Und wenn das die Mehrheit betrifft, kann das sehr rasch sehr unbequem werden.

Umso eher man sich mit dem eigenen Leben auseinandersetzt und Wege, die man bisher immer eingeschlagen hat, hinterfragt, desto eher wird man mit geänderten Situationen gut umgehen können. Zufriedenheit kann einem niemand anderer geben - die muss man sich schon selbst erarbeiten, indem man sich selbst und die eigenen Bedürfnisse kennenlernt. Und Letztere sind meistens ganz einfach und monetär gesehen gratis zu haben.

Von der Politik brauchen wir uns dabei nichts zu erwarten. Die Rechten schwafeln von "Leistung, die sich lohnen muss", die Linken vom "Limit" der Frauen, die für sie offensichtlich das Ersatzproletariat geworden sind. Hört man Gewerkschaften und Politikern gleich welcher Couleur (da gibt es ja kaum noch Unterschiede) zu, könnte man Arbeit für eine biblische Plage halten, die ständig erschöpfte Menschen mit Schweiß und Tränen ertragen.

Arbeit ist, so scheint’s, noch immer eine Qual, sie zehrt die Menschen aus, bringt sie - wie während der Pandemie mantraartig wiederholt - an den Rand der Erschöpfung. Die Lösung, um die Qualen der Arbeit zu lindern? Richtig: mehr Geld für weniger Arbeit; Förderung von Teilzeit; bezahlte Sabbaticals für alle; Vaterschaftsurlaub und eine ausladende Elternzeit, an die sich dann unmittelbar die "umfassende Politik der frühen Kindheit" anschließt, damit sich die jungen Eltern nicht zu sehr mit der unbezahlten Erziehungsarbeit für ihre eigenen Kinder abmühen müssen.

Die honigsüßen Versprechen des umfassenden Fürsorgestaats, unser aller Ersatzmutter, locken im Land der modernen Wohlstandsverwöhnten wie einst die verbotene Frucht im Paradies. Es bleibt nur zu hoffen, dass die Nachkommen angesichts der chronischen Finanzprobleme der Sozialsysteme nicht wie einst beim Sündenfall für lange Zeit werden büßen müssen.