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Überwinden die Finanzmärkte ihre "Sorgenmauern"?

Von Peter De Coensel

Gastkommentare

In Europa ist die Inflationsgleichung komplexer als in den USA.


Die Finanzmärkte hatten einen guten Start ins neue Jahr. Besser als erwartet ausgefallene Inflationsdaten für die Eurozone und eine moderate Lohninflation in den USA sorgten für eine fulminante Rally in allen Anleihesektoren. Der Zinssatz für zehnjährige US-Staatsanleihen führte die Entwicklung an und sank im Laufe der Woche um 32 Basispunkte auf 3,56 Prozent. Deutsche zehnjährige Bundesanleihen verzeichneten einen Rückgang um 36 Basispunkte und schlossen bei 2,20 Prozent.

Das Aktienuniversum des MSCI Europe Net Total Return legte um 4,78 Prozent zu. Der Eurostoxx 50 führte mit einem Plus von 5,91 Prozent die Performance-Tabelle an. Der S&P 500 in den USA hinkte hinterher und stieg nur um 1,45 Prozent. Im vierten Quartal 2022 verzeichnete der europäische Stoxx 600 seine bisher größte Outperformance und übertraf den S&P 500 um beeindruckende 13 Prozent. Das Zwölf-Monats-Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) des Eurostoxx 600 ist mit rund 12 eher günstig bewertet, während der S&P 500 bei 17 liegt. Neben einer vielversprechenden Bewertung für europäische Aktien - mit einem hohen Anteil an Value-Titeln - profitiert das Anlageuniversum davon, dass es unterbewertet ist, dass der US-Dollar schwächelt und dass es positiv auf die Wiederbelebung der chinesischen Wirtschaft ausgerichtet ist. Könnte es sein, dass wir in ein Marktumfeld eingetreten sind, in dem Anleihen und Aktien ihre jeweiligen "Sorgenmauern" überwinden werden?

Für die Anleihemärkte stellt der Inflationspfad in den nächsten Jahren die größte Sorge dar. In Europa ist die Inflationsgleichung komplexer und es lässt sich bei Gesetzesinitiativen zur Bewältigung der aktuellen Energiekrise eine mangelnde Synchronisation erkennen. Außerdem zeigt sich ein Arbeitsmarkt, der im Vergleich zu den USA empfänglicher für Lohninflation ist. Mangelnde Mobilität der Arbeitskräfte, eine alternde Erwerbsbevölkerung und große Qualifikationsunterschiede erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass die Dynamik der Lohninflation zum Tragen kommt.

Hinsichtlich des Zinsumfelds sind die Sorgen in der EU höher als in den USA. Die realen Renditen in Europa sind gerade erst ins Plus gelaufen, während sie sich in den USA um 1,5 Prozent konsolidieren. Die Aktienmärkte in den USA und der EU haben sich in den vergangenen Monaten voneinander abgekoppelt, und dieser Trend dürfte sich angesichts der stärkeren Schieflage des breiten US-Technologiesektors fortsetzen. Die Kunst des StockPickings erlebt ein Comeback.

Eine bloße Bestätigung von Fed- und EZB-Führung, dass die Höchststände bei den Notenbankzinsen in der ersten Hälfte des heurigen Jahres erreicht werden, wird es Anlegern ermöglichen, ihre Bedenken fallen zu lassen, da sie diesen Zyklus durchschauen, der aufgrund einschneidender, außergewöhnlicher globaler Ereignisse von 2020 bis 2022 viel Chaos mit sich brachte. "Weniger von allem" könnte zu einem Rückgang der impliziten und realisierten Volatilität an den Märkten führen. Dieses Szenario haben in der vergangenen Woche nur wenige Strategen vorausgesagt. Im Jahr 2023 könnten viele "Sorgenmauern" überwunden werden.