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Kirche am Wendepunkt

Von Ramona M. Kordesch

Gastkommentare
Ramona M. Kordesch ist Theologin und Zivilgesellschaftsforscherin. Als Nachhaltigkeitsexpertin ist sie Direktorin des Österreichischen Rates für Nachhaltige Entwicklung.
© privat

Sie scheint nun vollends dort angekommen zu sein, wo die Moderne sie haben will.


Die Kirchenaustrittszahlen im Jahr 2022 mit mehr als 90.000 Menschen, die ihre Zugehörigkeit zur römisch-katholischen Kirche hierzulande aufgekündigt haben, zeichnen ein eindrückliches Bild des pastoralen Notstandes in Österreich. Dabei ist es nicht der Glaube selbst, der nicht mehr nachvollzogen wird, sondern die Qualität seiner Vermittlung, die nicht mehr ausreicht, um Menschen glaubhaft vom christlichen, explizit katholischen Weg zu überzeugen. Damit schreitet das Phänomen der Ent-Konfessionalisierung noch christlich geprägter, westlicher Gesellschaften beständig voran - mit weitreichenden Folgen für die vor allem in Österreich und Deutschland historisch privilegierte Stellung der Institution Kirche gegenüber Staat, Markt und Zivilgesellschaft.

Das Sprichwort vom Fisch, der vom Kopf her zu stinken beginnt, erhält angesichts der bedauernswerten Lage der Kirche hierzulande und andernorts eine neue Dimension. Wie die Machtfülle zu rechtfertigen sei, ist eine Frage, auf die kirchliche Würdenträger beständig antworten müssen. Dabei werden passable Argumente vorgebracht wie die Werke der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, die sich in den vielfältigen Formen der kirchlichen Caritas ausdrücken und auf die ein vitales Gemeinwesen nicht verzichten kann.

Mit diesem Argument verbinden sich aus weltkirchenpolitischer Sicht ehrbare Reformgedanken zur Gestaltung einer Kirche als Option für die Armen "von unten her", also auf Basis eines demokratiepolitischen Konsenses. Idealtypisch hierfür stehen die fortdauernde Weltbischofssynode, die Papst Franziskus 2021 ins Leben gerufen hat, sowie auch die vielen nationalen Bemühungen um eine synodale Kirche, wie sie hierzulande mit dem "Synodalen Weg" stark propagiert werden.

Zielsetzung des Aufbruchs ist die Gestaltung einer Kirche, die Teilhabe ermöglicht und gegenüber dem Lehramt den Einbezug der Gesamtheit der Gläubigen fordert, die im Glauben angeblich nicht irren können. Diese Forderung ist nicht neu, sondern zentraler Bestandteil des Zweiten Vatikanischen Konzils, das mehr als 60 Jahre nach seiner Einberufung nun zu seiner vollen Rezeption zu kommen scheint.

Eine Kirche, die nach der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" Freude und Hoffnung, Trauer und Angst ihrer Gläubigen ernst nimmt, befindet sich auf der Suche nach ihrer wahren Identität im beständigen Aufbruch mit offenem Ausgang. Wo die einen die Verwirklichung der Kirche als Communio, also als demütige Pilgergemeinschaft in der Welt, begrüßen, befürchten die anderen den Verlust der Eindeutigkeit des Katholischen gegenüber anderen christlichen Konfessionen und Religionen.

In der Tat scheint zumindest theologisch die Protestantisierung der katholischen Kirche weit fortgeschritten zu sein, wenn wesentliche Fragen wie die Lehre von den "letzten Dingen" und die großen Themen, die die Kirche beständig auf das Evangelium bezogen, auch vernunftmäßig darlegen konnte, wie Vergebung, Sünde, Opfer, Heiligung und Erlösung, in lehramtlichen Dokumenten keine Rolle mehr spielen oder dem politischen Konsens ausgesetzt werden.

Gläubige bleiben orientierungslos zurück

In Summe bleibt das, was an der Kirche explizit katholisch ist, im aktuellen Diskurs empfindlich offen. Das unter dem Gütesiegel der Reform etablierte Pontifikat von Franziskus markiert einen Wendepunkt gegenüber den Mühen seines Vorgängers Benedikt XVI., die Vergewisserung des Katholischen gegenüber der modernen Welt voranzutreiben, und setzt dem Zeitgeist aus, was über Jahrhunderte glaubhaft tradiert wurde.

Die Kirche scheint nun vollends dort angekommen zu sein, wo die Moderne sie haben will, nämlich in einem offenen Konkurrenzverhältnis zu alternativen Formen der Lebensführung und Glaubenspraxis. Die Verhandelbarkeit der Heilsvermittlung lässt jedoch auch Gläubige orientierungslos zurück, die in der Eindeutigkeit des Katholischen aufgehoben waren und nunmehr aus der Mitte des Glaubens heraus an den verbleibenden, rechten Rand der Traditionalisten abgedrängt werden. In Zusammenschau treten neue Spaltungen zu Tage, die allesamt darin begründet liegen, dass nicht mehr geschult ist, was zu glauben vorgelegt wird.

Dieser Befund markiert die große Wende zwischen den Pontifikaten von Benedikt XVI. und Papst Franziskus, der schon in der Uneindeutigkeit der nachkonziliaren Zeit der Boden bereitet wurde. Und doch wäre es gänzlich falsch, die Kontinuität des Papsttums der jüngeren Zeit vollends aufzuheben, liegen doch seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts Führungsaufgaben auf dem Tisch, die von beiden unterschiedlich wahrgenommen wurden und werden. Während unter Papst Benedikt XVI. die Plausibilität des Glaubens vor der Maßgabe der Ent-Weltlichung seinen höchsten Ausdruck fand, ist mit Papst Franziskus die Ver-Weltlichung des Glaubens angezeigt, die einen beständigen Umbauprozess der kirchlichen Machtstruktur nicht erst zur Folge hat, sondern schon voraussetzt.

Darüber darf nicht vergessen werden, dass das Christentum - und explizit das katholische - zwischen den vermeintlichen Antipoden der Zuwendung zur Welt und in Abgrenzung zu ihr erst seine Konturen findet und damit zu wahrhaftem Ausdruck kommt. Das Nivellieren der Tradition als Antithese zum Zeitgeist ist demnach genauso falsch wie das Komprimieren ihrer Fülle auf seine berechtigten Anfragen hin.

Tod eines theologischen Giganten zur Unzeit

Wohin die Reise geht, bleibt unklar nach dem Ableben von Papst Benedikt XVI., der nicht nur als theologischer Gigant aus der Zeitgeschichte des Katholischen, selbst von einem modernistischen Standpunkt her gesehen, nicht wegzudenken ist, sondern dem es immer ein Anliegen war, vor allem der notwendigen Selbstvergewisserung, als Voraussetzung jeder Reform, weiten Raum zu geben.

Augenscheinlich ist, dass sich nach seinem Tod erneut ein Richtungsstreit zwischen liberalen und konservativen Kräften abzeichnet, der die Fülle des christlichen Glaubensgutes in seiner Lebenswirklichkeit dort verdunkelt, wo sie vor den Verwirrungen dieser Welt Licht und Orientierung bringen sollte, nämlich im Hinschauen auf das Leben, Leiden und Sterben des auferstandenen Herrn Jesus Christus, der seine Kirche nicht auf dem Königsweg des immerwährenden Triumphes gegründet hat, sondern auf dem Kreuzweg von Demut und Hoffnung, auf die wir alle zur seligmachenden Gnade hin gerettet sind.

Dass es der Kirche im Widerstreit mit der Moderne nicht mehr gelingt, Menschen in dieses Paradoxon hinein- und wieder hinauszuführen, ist ein bedauernswerter Befund einer auf ihre zivile Gestalt herabgewürdigte Organisation, die sich mit ihrem zunehmenden Mitgliederschwund zumindest hierzulande bereits bestens arrangiert hat.