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Ein defensiver Massenmord?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Wie kann ein bedeutender Intellektueller dem Westen die Schuld an Putins Krieg geben?


Der französische Historiker Emmanuel Todd ist eine jener öffentlichen Figuren, die in der Grande Nation regelmäßig für jene spannenden Debatten sorgen, deren intellektuelles Niveau in Deutschland oder Österreich eher selten erreicht wird. Dabei lässt er nur ungern eine Gelegenheit aus, gepflegt zu provozieren. Seit er den Untergang der Sowjetunion Ende der 1980er präzise vorhergesagt hat, gilt er als einer der führenden französischen Intellektuellen.

Entsprechende Aufmerksamkeit generierte deshalb das erste Interview, das er nach längerer Zeit des öffentlichen Schweigens der Schweizer "Weltwoche" gab. Gewohnt brillant analysierte er darin die akuten Schwächen der EU und Deutschlands, erklärte den Ukraine-Krieg durchaus klug im globalen Kontext - und verstieg sich prompt in eine an Skurrilität kaum zu überbietende Behauptung: Gefragt, warum der russische Präsident Wladimir Putin die Ukraine angegriffen habe, antwortet er allen Ernstes: "Der Westen hat Russland provoziert." Der US-Politologe John Mearsheimer habe nüchtern festgehalten, dass die Zusammenarbeit mit Briten und Amerikanern die Ukraine faktisch zum Nato-Mitglied gemacht hätte. "Sie wurde aufgerüstet, um Russland anzugreifen. Putins Angriff war eine defensive Invasion."

Putin hat, folgt man also Todd, gleichsam in vorbeugender Notwehr gehandelt, um einem ukrainischen Angriff zuvorzukommen. Auf die absurde Idee, die vergleichsweise kleine und im Februar 2022 militärisch noch viel schwächere Ukraine würde von sich aus die größte Atommacht der Welt ohne Not angreifen und nach Moskau marschieren, muss man erst einmal kommen. Selbst wenn Todd mit der Unterstellung, die Ukraine hätte "Russland angreifen" wollen, bloß meint, dass sie vorgehabt hätte, etwa die russisch besetzte Krim militärisch zu befreien, taugt das als Legitimation der russischen "Spezialoperation" genau null - denn die Zugehörigkeit der Krim zur Ukraine hat ja sogar Russland selbst im Budapester Memorandum 1994 schriftlich anerkannt. Als Kriegsgrund taugt das daher so wenig wie allfällige Blähungen des russischen Kriegsherrn.

Nun ist es gewiss nicht nur zulässig, sondern höchst notwendig, die nicht gerade wenigen Fehler des Westens in den vergangenen 20 Jahren Putin und Russland gegenüber zu benennen und daraus zu lernen, keine Frage. Das berechtigt aber nicht dazu, einen Angriffskrieg mittels eines eher plumpen historischen Hütchenspielertricks zu einem Akt der Notwehr hinzubiegen und damit letztlich zu legitimieren.

Schon, und deswegen ist die Causa so ärgerlich, kursiert Todds krude These im Milieu jener, die meinen, auf Putins Seite stehen zu müssen und den Angriffskrieg relativieren zu dürfen.

Was einen eminenten Intellektuellen dazu bringt, sich derart zu versteigen, weiß kein Mensch. Die Annahme, dass es hier um eine Provokation um der Provokation wegen unter den Bedingungen der Aufmerksamkeitsökonomie gehen könnte, erscheint jedenfalls nicht ganz abwegig. Zulässig ist dergleichen angesichts der Gräuel dieses Krieges ganz sicher nicht.