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Rote Linien im eigenen Kopf

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Ob der Ukraine-Krieg eskaliert, hängt nicht von Panzerlieferungen ab, sondern von Putin und sonst nichts.


Im Grunde ist die Sache nicht so kompliziert. Wenn der Westen unter der Führung der USA meint, die Ukraine befähigen zu wollen, im Krieg gegen Russland zu obsiegen, dann ist es nur logisch, sie mit allen dazu notwendigen Waffen auszustatten: nicht nur mit Kampfpanzern, sondern ganz grundsätzlich auch mit Flugzeugen, Raketensystemen und Schiffen.

Völkerrechtlich ist das völlig legal, auch wenn die Ukraine die von Russland annektierten Gebiete zurückerobern will, wie der österreichische Völkerrechtler Ralph Janik jüngst in der "Neuen Zürcher Zeitung" darlegte: "Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung, andere Staaten dürfen sie dabei unterstützen." Zu beachten ist dabei lediglich die Angemessenheit der angewandten Mittel. "Aufgrund der Intensität des russischen Angriffs hat die Ukraine viel Handlungsspielraum. Sie darf zwar immer noch nicht jedes Mittel ergreifen, aber doch sehr viele. Ziele in Russland - ob zu Lande oder auf dem Wasser - sind jedenfalls kein Problem, theoretisch sind selbst Vorstöße mit Bodentruppen auf russisches Gebiet erlaubt; sie müssten erst nach Ende der Kampfhandlungen wieder abziehen."

Trotzdem ist es natürlich sinnvoll, wenn westliche Verantwortungsträger abwägen zwischen dem völkerrechtlich Zulässigen und dem pragmatisch Vernünftigen. Denn in einen noch größeren Krieg zu schlittern, ist auch dann keine besonders gute Idee, wenn das Völkerrecht dies völlig deckt.

Deshalb hat sich im Westen ein Denkmodell durchgesetzt, das davon ausgeht, Russlands Kriegsherr Wladimir Putin dürfe nicht in die Lage versetzt werden, allfällige westliche Lieferungen schweren und schwersten Gerätes als Ausrede dafür nutzen zu können, den Krieg weiter zu eskalieren, womöglich gar atomar.

Das mag logisch klingen, bildet aber wohl die Wirklichkeit nicht korrekt ab. Denn die bisherige historische Erfahrung lehrt uns: Putin handelt weitgehend losgelöst davon, wie der Westen in dieser Frage agiert. Hält er einen Schritt für richtig, setzt er diesen, völlig unabhängig davon, ob er provoziert wird oder nicht. Schon die Annexion der Ostukraine und der Krim - und schon gar nicht der Versuch einer Invasion in der ganzen Ukraine im Februar 2022 - war ja nicht die Folge irgendeiner militärischen Aktion des Westens. Umgekehrt lieferte etwa Polen im vergangenen Jahr mehr als 200 schwere Kampfpanzer an die Ukraine, ohne dass deswegen der Dritte Weltkrieg ausgebrochen wäre.

Anzunehmen ist daher: Ob Russland den Krieg weiter eskaliert oder nicht, wird nur sehr wenig damit zusammenhängen, dass der Westen nun zusätzlich zu den hunderten bereits gelieferten Kampfpanzern weitere aus eigener Produktion oder anderes schweres Gerät zur Verfügung stellt - sondern ausschließlich davon, ob Putin und seine Militärs eine derartige Eskalation wollen oder eben nicht. Das heißt nicht zwingend, dass es sinnvoll sein muss, die Nato als Lieferdienst für Kiew zu begreifen, der jede beliebige Bestellung noch am selben Tag frei Haus zustellt. Es heißt aber, dass die antizipierten Befindlichkeiten Putins in diesem Kalkül ein besonders wichtiger Faktor sein müssen.