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Wie lange soll der Krieg noch dauern?

Von Max Haller

Gastkommentare
Max Haller war von 1985 bis 2015 Professor für Soziologie an der Universität Graz und forscht jetzt an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
© privat

Ein Sieg der Ukraine, aber auch Russlands scheint höchst unwahrscheinlich. Umso wichtiger ist es, Frieden zu schaffen.


Wenn man den Krieg in der Ukraine und seine Begleiterscheinungen verfolgt, wird einem geradezu übel. Wochenlang trommeln die Medien, Deutschland müsse seine "Zauberwaffe", die Leopard-Panzer, liefern, um eine entscheidende Wende zugunsten der Ukraine herbeizuführen. Den Höhepunkt stellen die Aussagen des US-Verteidigungsministers Lloyd Austin und jetzt des pensionierten US-Generals Mark Hertling dar. Letzterer meint, gut ausgebildete Panzerkräfte könnten einen Gegner "buchstäblich überwältigen". Dabei dachte er vermutlich an die Invasion der USA im Irak vor genau 20 Jahren, wo weit bessere, durch totale Luftkontrolle unterstützte US-Panzer die irakische Armee in kurzer Zeit vernichteten.

Die "Wiener Zeitung" gab seine Ausführungen jüngst ausführlich auf den Seiten 1 und 3 unter der Schlagzeile "Die Ukraine kann gewinnen" wieder. Als Sieg bezeichnet Hertling die Rückeroberung aller von Russland besetzten Gebiete, einschließlich der Krim. Er sieht auf ukrainischer Seite nur Vorteile: Panzer mit größerer Schussreichweite, überzeugendere politische Ideologie für den Krieg, starke Allianzen durch Nato und EU. Dagegen sieht er auf russischer Seite nur Nachteile: ineffiziente Führungsstruktur, schlecht ausgebildete Soldaten, schwierige Integration neuer Waffensysteme.

Dies ist aber wohl eine Sicht, die nur von den USA propagiert wird. Wie realistisch ist ein Sieg der Ukraine? Welche Folgen hätte eine noch längere Fortführung des Krieges? Aus den Medienberichten kann man entnehmen, dass in absehbarer Zeit höchstens einige Dutzend Leopard-Panzer geliefert werden können; und dass es bis zu ihrem Einsatz nochmals Monate, wenn nicht länger dauern wird. Es sollen aber wenigstens 300 Panzer notwendig sein, um einen massiven Angriff erfolgreich vortragen zu können. Russland verfügt laut vorliegenden Daten über 10.000 bis 15.000 Panzer und rund 4.000 Militärflugzeuge. Auch wenn deren Schlagkraft weit geringer sein mag, als es die Zahlen suggerieren, ist die Differenz enorm.

Der US-General, für den Nicht-Befürworter der Kriegsunterstützung der Ukraine im US-Kongress "extreme Politiker" sind, erwähnte selbst das militärische Sprichwort, dass Quantität eine eigene Qualität erzeugt. Außerdem: Was würde der russische Präsident Wladimir Putin tun, wenn seine Truppen entscheidend zurückgeschlagen würden? Dass er dann auch taktische Atomwaffen einsetzen würde, scheint nicht ganz aus der Luft gegriffen.

Verantwortungslose Aussagen

Angesichts all dieser Fakten müssen die Aussagen von Hertling, die auch schon der US-Verteidigungsminister machte, geradezu als verantwortungslos bezeichnet werden. Sie animieren die Ukraine und Russland, den Krieg auf jeden Fall weiterzuführen, womöglich auf Jahre. Was würde eine solche Weiterführung bedeuten? Nach vorliegenden Schätzungen haben sowohl die Ukraine als auch Russland in einem Jahr mindestens 100.000 verletzte Soldanten (und mindestens 10.000 Tote) zu beklagen; dazu kommen 10.000 und mehr an getöteten Zivilpersonen. Die materiellen Schäden durch Krieg und Bombardierungen werden für die Ukraine auf 350 bis 1.000 Milliarden Dollar geschätzt. Von den knapp 44 Millionen Ukrainern sind seit Kriegsbeginn unglaubliche 8 Millionen (vor allem Frauen und Kinder) ins Ausland geflüchtet; je länger dieser Krieg andauert, desto mehr von ihnen werden nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren.

Jede einigermaßen realistische Betrachtung muss zu dem Schluss kommen, dass ein Sieg der Ukraine als höchst unwahrscheinlich scheint, aber ebenso wenig ein Sieg Russlands im Sinne von Putins anfänglichem Kriegsziel, die Regierung in Kiew abzusetzen. Die Ukraine hat bis jetzt Enormes geleistet. Durch die Abwehr des Angriffs auf Kiew wurde Putins wichtigstes Kriegsziel vereitelt. Auch der weitere Vorstoß von Osten nach Westen wurde mehr oder weniger blockiert, teils sogar rückgängig gemacht. Am wahrscheinlichsten ist, dass der Krieg angesichts eines Patts der Kräfte weitergehen wird, mit weiteren massiven Verlusten an Menschenleben, Material und Infrastruktureinrichtungen.

Moralisch fragwürdige Hilfe

Was moralisch besonders fragwürdig ist: Die EU und die USA sind zu (fast) allem bereit, was die Ukraine an militärischer Unterstützung braucht. Nur zu einem nicht, und hier sind sich alle einig: Eigene Soldaten sollen nicht entsandt werden. Man lässt die Ukrainer ganz allein für die "Freiheit Europas" (Zitat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) oder überhaupt der westlichen Welt (Sichtweise der USA) bluten. Es ist nicht auszudenken, wie es mit Adolf Hitler weitergegangen wäre, hätten Briten und Franzosen nach seinem Überfall auf Polen am 1. September 1939 ähnlich gehandelt, anstatt ihm zwei Tage später den Krieg zu erklären.

Man braucht keinesfalls für eine Beendigung der militärischen Unterstützung der Ukraine zu plädieren, da sich die Lage dann zugunsten Russlands verschieben könnte. Was aber absolut geboten erscheint, sind sofortige Bemühungen um einen Waffenstillstand. Diese müssten vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ausgehen, in Übereinstimmung vor allem mit der EU und mit Zustimmung der USA. Dabei wären der vollständige Rückzug aller Truppen aus dem Kriegsgebiet und die Übernahme von dessen Kontrolle durch UNO-Truppen vorzuschlagen. Dann müsste allen Geflüchteten aus diesen Gebieten sichere Rückkehr garantiert werden, und man könnte eine international überwachte Abstimmung über ihr weiteres Schicksal ansetzen.

Waffenstillstand anstreben

Hier werden sofort zwei Einwände kommen: Es gab ja bereits jede Menge erfolgloser Friedensbemühungen (insbesondere von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron), und Putin würde diesen Bedingungen nie zustimmen. Dazu ist zu sagen: Einem Angebot über Waffenstillstandsverhandlungen seitens des ukrainischen Präsidenten mit voller Unterstützung der EU käme weit mehr Gewicht zu als allen bisherigen Bemühungen. Die USA sollten sich dabei eher heraushalten. Aufgrund ihrer massiven militärischen, finanziellen und ideologischen Unterstützung ist das Argument schwer von der Hand zu weisen, dass sie die Ukraine als Stellvertreter auf der geopolitischen Bühne der Großmächte sehen.

Für Putin selbst hätte ein Waffenstillstand sofortige positive Folgen (Aufhebung der Sanktionen, Reduzierung der immensen Kriegsausgaben und anderes). Vielleicht könnte er sogar die vorübergehende "Neutralisierung" der umkämpften Gebiete als Erfolg verkaufen, da diese dann ja selber über ihr künftiges Schicksal entscheiden könnten. Ob Putin einem Waffenstillstand zustimmen würde oder nicht, ist aber kein wirkliches Argument dagegen, ihn nicht jetzt und sofort anzustreben. Sicher ist nur: Die Fortdauer des Kriegs ist mit enormen weiteren Opfern verbunden und ein Ausgang im einen oder anderen Sinne höchst ungewiss. Daher sind alle Bemühungen - so aussichtslos sie im Moment auch erscheinen mögen -, ihn zu beenden, geboten.