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Wenig Jubel zum Brexit-Jubiläum

Von Otmar Lahodynsky

Gastkommentare
Otmar Lahodynsky ist Ehrenpräsident der Association of European Journalists (AEJ), die er von 2014 bis 2021 leitete. Er war Redakteur beim Nachrichtenmagazin "profil".
© privat

Vor drei Jahren trat Großbritannien aus der EU aus. Als einzige große Volkswirtschaft driftet das Vereinigte Königreich heuer in eine Rezession.


Vergangenen Mittwoch war Großkampftag der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst in Großbritannien. Zehntausende Lehrkräfte an Schulen und Universitäten, Pflegepersonal, Lokführer und Verwaltungsbeamte legten die Arbeit nieder und forderten bei Demonstrationszügen mehr Geld. Doch die konservative Regierung will den Arbeitskampf aussitzen. Denn Geld für Lohnerhöhungen für Beamte hat sie nicht zur Verfügung, obwohl sie schon die höchste Neuverschuldung in Europa aufzuweisen hat.

Wie zum Hohn sprach der neue Premier Rishi Sunak zum dritten Jahrestag des Brexit von einer "riesigen Chance" für Wachstum, Jobs und soziale Mobilität. Dabei ist in allen drei Bereichen nur Niedergang feststellbar: Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ist Großbritannien die einzige große Volkswirtschaft, der heuer eine Rezession droht. Nach Einschätzung der IWF-Experten wird die britische Wirtschaft dieses Jahr um 0,6 Prozent schrumpfen. Das Land bildet damit das Schlusslicht in der veröffentlichten IWF-Liste und liegt sogar hinter Russland.

Vor genau drei Jahren hat Großbritannien den Brexit vollzogen. Viele Briten, die sich bei der Volksabstimmung 2016 mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent gegen einen Verbleib in der Europäischen Union ausgesprochen haben, dürften die Versprechungen der damaligen Regierung vergessen oder verdrängt haben: Neue Handelsverträge, mehr Arbeitsplätze, neue Freiheit, Politik selbst zu bestimmen, alleinige Grenzhoheit - ein wahres Paradies wurde damals vorausgesagt. Doch vieles davon sollte sich als unerfüllbar herausstellen.

Bewusst geschürte Lügen

Denn viele Prognosen basierten schon damals auf bewusst geschürten Lügen - wie etwa die Aussage, Großbritannien werde sich mit dem Brexit viel Geld durch wegfallende EU-Beiträge ersparen. "Wir schicken der EU jede Woche 350 Millionen Pfund", stand auf roten Werbebussen der "Vote Leave"-Kampagne, gefolgt von: "Lasst uns stattdessen unser NHS finanzieren." Doch das National Health System, das staatliche Gesundheitssystem, wurde weiter ausgehungert. Es fehlt jetzt überall an Ärzten und Pflegepersonal - viele sind in ihre EU-Heimatländer zurückgekehrt - und an Geld.

Nach dem Brexit-Referendum wurde auch bekannt, dass die Brexit-Befürworter mit falschen Karten gespielt hatten. So wurde vom Institut "Cambridge Analytica" über Soziale Medien Druck auf Unentschlossene, die mittels Algorithmen herausgefiltert wurden, ausgeübt. Wieder mit falschen Angaben, etwa dass die Queen den Brexit unterstütze. Auch eine Einflussnahme aus Russland wurde aufgedeckt. Kreml-Chef Wladimir Putin wollte und will noch immer die EU schwächen.

Die konservative Regierung in London hatte ohne Not den Weg zum Brexit-Referendum freigemacht. Der damalige Premier David Cameron hatte den EU-feindlichen Parteiflügel ruhigstellen wollen und gar nicht mit einer Mehrheit für den EU-Austritt gerechnet. Der wandlungsfähige Politiker und Londoner Bürgermeister Boris Johnson witterte seine Chance. Er hatte schon als Korrespondent in Brüssel gerne und oft Fake-Artikel über die EU geschrieben und damit Erfolg gehabt. 2016 wurde er unter Theresa May Außenminister und folgte ihr 2019 als Premierminister nach.

"Großartige Handelsverträge" hatte Johnson seinen Landsleuten vor der Abstimmung versprochen. Doch die bisher neu verhandelten Verträge - etwa mit Australien oder Neuseeland - wiegen die schweren Einbußen im Außenhandel mit der EU nicht annähernd auf. Und auch das erhoffte Freihandelsabkommen mit den USA ist immer noch in weiter Ferne. Der Mangel an Arbeitskräften ist einer der Hauptgründe für das Ausbleiben des Wirtschaftswachstums. Denn viele EU-Bürger verließen das Königreich, und die Einwanderung aus EU-Ländern wurde erschwert. Vor allem in der Gastronomie, im Gesundheitswesen, aber auch in Produktion und Logistik fehlen jetzt Arbeitskräfte.

Ein Abbau von Bürokratie ("Red tape") war ein weiteres Brexit-Versprechen. Doch für Exportunternehmen auf beiden Seiten des Kanals ist die Abwicklung komplizierter, zeitaufwendiger und teurer geworden. Die langen Lkw-Kolonnen vor dem Kanaltunnel zeigen das Problem deutlich. Ein Fünftel der kleineren britischen Exportfirmen hat wegen der Behinderungen aufgegeben.

"Desaster" im Außenhandel

So ist auch der britische Außenhandel mit Deutschland deutlich geschrumpft. "Es ist ein wirtschaftliches Desaster. Während Großbritannien im Jahr 2016 noch der drittwichtigste Exportmarkt Deutschlands war, ist das Land im Jahr 2022 auf Platz acht abgerutscht", stellte der Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK), Peter Adrian, nüchtern fest. Für EU-Unternehmen herrsche weiterhin eine erhebliche Planungs- und Rechtsunsicherheit. "So besteht die Gefahr von Handelskonflikten, weil Großbritannien sich vom EU-Austrittsabkommen distanziert", erklärte Adrian.

Die britische Regierung will das mühsam ausgehandelte EU-Austrittsabkommen abändern, vor allem wegen der Handelsregelung mit Nordirland, für das weiterhin die EU-Regeln gelten, um Grenzkontrollen mit Irland zu vermeiden. Denn eine Einführung einer "harten Grenze" auf der irischen Insel könnte für neue Spannungen in der einstigen Bürgerkriegsregion sorgen.

Noch gibt es in Großbritannien keine Mehrheit für eine Rückkehr in die EU. Das "Rejoin"-Lager ist noch zu schwach und hat auch in der Labour-Partei, die die Tories inzwischen in allen Umfragen überholt hat, zu wenig Unterstützung. Vermutlich ist auch die Schmerzgrenze bei vielen Briten noch nicht erreicht. Wochenlang leere Supermarktregale im Vorjahr wurden mit britischer Geduld hingenommen. Doch eines dürfte inzwischen außer Streit stehen: Der Brexit hat keinesfalls die von der Tory-geführten Regierung versprochenen Verbesserungen gebracht.