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Frieden um jeden Preis?

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Solange Europa nur seine Vergangenheit überwinden will, bleibt es machtlos.


Der Nato-Staat Portugal hat jüngst der Ukraine seine 32 Kampfpanzer vom Typ "Leopard 2" angeboten; leider stellt sich nun heraus, dass der Großteil der Tanks so viele technische Schäden hat, dass sie nicht einsatzfähig sind.

Nun ist das kleine Portugal nicht mit ganz Europa gleichzusetzen, aber trotzdem beleuchtet die Episode irgendwie ganz gut das europäische Mindset gegenüber der militärischen Landesverteidigung - sie wurde und wird zum Teil noch immer als Relikt einer vergangenen Zeit betrachtet. Ein Relikt, für das man weder viel Geld noch viele mentale Ressourcen investieren will. Ganz anders als die Amerikaner.

Erst der Ukraine-Krieg zeigt jetzt, wie falsch das erstens war und wie sehr es zweitens die Handlungsoptionen der europäischen Nationen limitiert, die in diesem Krieg keine wirklich wesentliche Rolle spielen können - obwohl er in ihrer unmittelbaren Nähe stattfindet.

Sehr gut hat dieses Problem jüngst John Kornblum beschrieben, langjähriger Botschafter der USA in Berlin, einer der wichtigsten Architekten der transatlantischen Beziehungen und Urheber jenes Satzes, mit dem Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor Weltgeschichte schrieb: "Mister Gorbachev, tear down this wall."

Frieden, meinte jüngst der Diplomat in einem Interview zu seinem
80. Geburtstag, "ist die Abwesenheit von Krieg, ohne Referenz auf Werte oder Souveränität. Sicherheit meint den Schutz eines Landes und seiner Bevölkerung mit all ihren Werten und ihrem Way of Life. Nach den Verheerungen des 20. Jahrhunderts haben die Europäer Frieden als ihr wichtigstes Ziel benannt." Die EU nennt sich sogar "Friedensprojekt" und setzt so Frieden noch vor Sicherheit oder Demokratie, Toleranz oder Gerechtigkeit.

"Amerika hingegen ist ein kontinentales Land, das seine Sicherheit, seine Werte und seine Unabhängigkeit schützen will", meint Kornblum. "Wir beginnen mit Verteidigung und bauen unsere Strategien hierauf auf. Wenn die Europäer aber mit jemandem konfrontiert sind, der keinen Frieden will, dann kracht ihre Strategie in sich zusammen. So geschehen bei Putin."

Es ist genau genommen das zweite Mal in der jüngeren Geschichte, dass die Priorisierung des Friedens gegenüber der Sicherheit Europa im falschen Augenblick lähmt: Auch im Bosnienkrieg des vorigen Jahrhunderts zeigte sich das "Friedensprojekt" EU der brutalen Aggression der Serben gegenüber eher hilflos.

Es ist angesichts der von Putin verursachten Zeitenwende mehr als höchste Zeit, sich von dieser Vorstellung zu lösen und die Gewichtung der politischen Prioritäten ein Stück hin in Richtung Sicherheit und weg vom Konzept des "Friedens um jeden Preis, und sei es die Freiheit" zu verschieben.

"Europa kann sich nicht in dieser neuen Zeit entfalten, wenn es sich immer nur als Projekt begreift, um die Vergangenheit zu überwinden", diagnostiziert Kornblum mit einer Klarheit, die man in diesem Kontext weder von einem deutschen Bundeskanzler noch der Präsidentin der EU-Kommission je gehört hat. Dass es dafür eines betagten US-Diplomaten bedarf, sagt einiges über die Befindlichkeit der europäischen politischen Eliten aus.