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Wirtschaft 2.0: Werte vermessen

Von Stefan Schleicher

Gastkommentare
Stefan Schleicher ist Professor am Wegener Center für Klima und globalen Wandel an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Das Bruttoinlandsprodukt registriert nur einen kleinen Ausschnitt der langen Wertschöpfungsketten.


Die Snack-Produkte, die sie als Product Managerin in einem großen Lebensmittelkonzern verantwortet, würde sie nie ihren Kindern zum Essen geben. Mitarbeiter einer Bank deuten an, sie würden viele der ihnen zum Verkauf aufgetragenen Finanzprodukte eigentlich nicht weiterempfehlen. Welche wirtschaftliche Aktivität für wen wieviel wert ist, hat eine lange Geschichte im ökonomischen Denken. Drei Messlatten werden dafür neu entdeckt.

Eine erste Messlatte versucht zu unterscheiden, welche wirtschaftlichen Vorgänge in einer Gesellschaft als unmittelbar Werte stiftend - wie Behausung, Ernährung, Gesundheit und Kultur - und welche nur als Status stiftend - wie Luxusautos und Nobellandsitze - eingeschätzt werden. Das ist eine Messlatte, deren argumentative Fundamente bis zu Aristoteles zurückreichen.

Eine zweite Messlatte stellt sich der Frage, ob eine bestimmte wirtschaftliche Tätigkeit - wie der Konsum einer Banane oder der Kauf des nächsten T-Shirt - sowohl jetzt als auch später den Wohlstand anderer Personen bei uns und in anderen Regionen belasten könnte. Das ist die Orientierung, die der bahnbrechende Brundtland-Bericht in den 1980er Jahren setzte.

Eine dritte Messlatte überprüft, wo eine bestimmte wirtschaftliche Aktivität - wie die Fahrt mit einem Auto oder der Kauf einer Jeans-Hose - Werte generiert und wo Werte vernichtet werden. Von der Bestellung bei einem Versandhändler im Internet bis zur Baumwollfarm und den Arbeiterinnen in Vietnam kann diese Messlatte angelegt werden. Mariana Mazzucato ist eine Proponentin dieser Messlatte.

Mit diesen neuen Messlatten wird gleichsam die Black Box einer Wirtschaft geöffnet, weil sie sichtbar machen, was das derzeit dominante Maß zur Vermessung der Wirtschaft, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) und die damit verbundenen Indikatoren wie Konsum und Investitionen, nicht ausloten können. Für die Gesundheit bedenkliche Snack-Produkte, Finanzprodukte zur Finanzierung von Supermärkten am Rand der Favelas in Südamerika, oder die weltweit explodierende Rüstungsproduktion schlagen sich positiv im BIP nieder, passieren aber nicht den Test der neuen Messlatten.

In seiner rund hundertjährigen Geschichte war das BIP solange ein brauchbarer Indikator für wirtschaftliche Entwicklung, als fast jedes wirtschaftliche Tun als wohlstandserhöhend empfunden wurde. Das beginnt sich nun aber zu ändern, weil das BIP nur einen kleinen Ausschnitt der langen Wertschöpfungsketten registriert. Von den Grenzen des Raumschiffs Erde bei Boden, Wasser und Atmosphäre bis zu den ungleichen Lasten für die Menschen reichen die Messpunkte, die mit dem Erwerb des nächsten Kleidungsstückes verbunden sind.

In unseren persönlichen Entscheidungen und in den Unternehmen sollten die neuen Messlatten verlässliche Begleiter werden. Viele Universitäten beginnen ihre Inhalte für Wirtschaft nach den neuen Maßen zu positionieren. Der Internationale Währungsfonds wird möglicherweise noch länger brauchen, sein für Russland prognostiziertes positives BIP-Wachstum für 2023 um den Beitrag der Kriegswirtschaft zu saldieren.

So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.