Zum Hauptinhalt springen

Mitleid ist universell - oder gar nicht

Von Heinrich Breidenbach

Gastkommentare
Heinrich Breidenbach ist Blogger, Unternehmer und Autor in Salzburg. Sein Buch "Achtung! Wortkeulen. Die Sprachtricks der Schlechtmenschen" beschäftigt sich mit politikmächtigen, verführerischen Phrasen.
© privat

Hilfe nur für die "eigenen Leute" und nicht für "andere" zu fordern, ist letztlich unglaubwürdig.


"Es ist unglaublich, mit welcher Unverfrorenheit gerade grüne Politiker immer wieder unser Steuergeld an das Ausland verschenken. 5 Millionen für die Ukraine von Frau Gewessler, 3 Millionen von Herrn Kogler für die Türkei. Ich frage mich, wann endlich mit derselben Euphorie Geld für die von der Preisexplosion in die Armut getriebenen Österreicher ausbezahlt wird. Jetzt muss Schluss sein mit Millionengeschenken an das Ausland! Wir kümmern uns um Niederösterreich und Österreich!"

Mit diesem Posting hat der niederösterreichische FPÖ-Landesparteichef Udo Landbauer für Aufregung gesorgt. Tut endlich etwas für die "eigenen" Leute! An die "eigenen" Leute denkt wieder einmal niemand. Dieser Reflex, in diesem Fall gegen Hilfe für die Erdbebenopfer in der Türkei und Syrien, folgt einem bekannten und bewährten Muster.

Mitleid ist ein basales Empfinden, eine Tugend der Zivilisation. Ohne Mitleid herrschen Kälte und Barbarei. Mitleid, oder auch Solidarität, auf angeblich "eigene Leute" zu begrenzen, ist das Gegenteil davon. Die Wortkeule von den "eigenen Leuten" kommt unter anderem dann, wenn zur Hilfe oder Solidarität mit Menschen anderswo auf der Welt aufgerufen wird. Sie ist stark - und sie verfängt. Sie bildet ein "Wir" gegen "andere". Jede und jeder wird scheinbar eingeladen, zu dem idealisierten "Wir" der "eigenen Leute" dazuzugehören.

Das so verführerische "Wir" kann sozial, kulturell, religiös, sexuell, national oder rassisch definiert sein. Es kann die "Weißen" meinen, die "Fleißigen und Tüchtigen", die Deutschen oder die Österreicher ganz allgemein. Die "eigenen Leute" sind propagandistisch austauschbar. Zur Propaganda gehört immer dazu, dass die "eigenen Leute" ungerecht behandelt werden, gefährdet sind und ganz dringend die richtigen Beschützer brauchen. Es wird ihnen besser gehen, wenn es den "anderen" schlechter geht oder ihnen nicht geholfen wird. Die Schwinger dieser Wortkeule haben nichts Gutes im Sinn. Sie missbrauchen die "eigenen Leute" als Propagandavehikel, nicht zum Vorteil der "eigenen Leute", sondern nur zum Vorteil für sich selbst.

Mitleidlos nach Stalingrad

Mitleid oder Solidarität sind aber universell - oder gar nicht. Ein kaltes Herz wird sich letztlich auch als kaltes Herz gegenüber den "eigenen Leuten" erweisen. Wer Mitleid oder Solidarität rassisch, religiös oder national begrenzt, empfindet diese Gefühle in Wahrheit gar nicht. Alle nationalistischen Hetzer, die das "eigene Volk" auf Kosten anderer scheinbar in den Mittelpunkt stellten, waren letztlich auch mitleidlos mit den "eigenen Leuten".

Die Geschichte ist voller Beispiele dafür. Die Nationalsozialisten führten die "eigenen Leute", die "eigene Rasse", die "Deutschen" als Herrenmenschen im Munde. Aber letztlich waren sie gegenüber den "eigenen" jungen Bäckern, Metzgern, Fabrikarbeitern oder Bauern, die sie als Soldaten nach Stalingrad marschieren ließen, genauso grausam, herzlos und verachtend wie gegenüber Juden oder slawischen "Untermenschen". Wer kein Mitleid mit jüdischen Kindern empfindet, empfindet auch keines mit "eigenen" jungen Männern, die gerade in Stalingrad krepieren.

Extremistische Führer und Propagandisten der "eigenen Leute" provozieren gerne Situationen, in denen sie die Mehrheiten der "eigenen Leute" für ihre Zwecke in Geiselhaft nehmen können. Im zerfallenden Jugoslawien mussten sich Menschen, die sich vorher noch nie Gedanken darüber gemacht hatten, ob sie Serben oder Bosnier waren, plötzlich für ein "Wir", für eine Zugehörigkeit zu "eigenen Leuten" entscheiden. Die Ultranationalisten aller Seiten haben damit gemeinsam vielen hunderttausend Menschen im ehemaligen Jugoslawien furchtbares Leid zugefügt.

Die Keule ist ein Chamäleon

Die "eigenen Leute" und die jeweils "anderen" können so flexibel und wandelbar wie ein Chamäleon eingesetzt werden. Nehmen wir zum Beispiel die wechselnden "anderen" der österreichischen Rechten nach 1945. Die Liste ist lang: Am Anfang standen "die Juden" und Israel. Es folgten die "Sieger" und "Umerzieher". Die ersten Gastarbeiter wurden als "Tschuschen" beschimpft, was die FPÖ aber nicht daran hinderte, später eingebürgerte Serben massiv als Wählersegment zu umwerben.

In den 1980er Jahren wurden einheimische Arme, Arbeitslose und Obdachlose militant als "Sozialschmarotzer" stigmatisiert. Die einschlägigen Lösungen waren Arbeitszwang und Arbeitslager. Später wurden genau diese "eigenen Leute" mit dem Angebot eines "Wir" gegen "die Ausländer" als Wähler geködert. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wurden die "eigenen Leute" wacker gegen polnische, rumänische und ex-jugoslawische Flüchtlinge verteidigt, bis später die dazu viel geeigneteren Moslems als ganz "andere" gefunden wurden.

Erdbebenopfer, zehntausende frierende, kranke, verletzte Menschen, Kinder und Alte in den Trümmern zerstörter Städte und Dörfer in dieses Schema zu pressen, ist ein neuerlicher Tiefpunkt einer bewährten Masche. Hat sie verfangen? Ja, sicher. Wie immer. Möglich aber auch, dass angesichts des unendlichen Leids in den Bebengebieten das Abscheuliche und Verlogene daran deutlicher sichtbar geworden ist.