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Nord Stream 2 im Orient-Express

Von Christian Ortner

Gastkommentare

Die Spekulationen um die Sprengung der Pipeline sind bloße Propaganda.


Agatha Christies erzeugt in "Mord im Orient-Express" jede Menge Spannung dadurch, dass von dem runden Dutzend Reisender, die im Luxuszug von Istanbul nach Paris unterwegs sind, alle ein Motiv zu haben scheinen, einen ihrer Co-Passagiere ermordet zu haben, was Privatdetektiv Hercule Poirot bekanntlich vor einige Herausforderungen stellt.

Vor denen steht auch die interessierte Weltöffentlichkeit, wenn es um die Frage geht, wer eigentlich am 26. September 2022 die Gaspipeline Nord Stream 2 gesprengt hat, die russisches Gas nach Deutschland hätte pumpen sollen, aber nie in Betrieb ging. Ganz besonders, seit jüngst der US-Publizist Seymour Hersh (85) behauptete, die USA stünden hinter diesem Anschlag - freilich ohne einen einzigen Beleg dafür zu haben. Tatsächlich ist bis heute unbekannt, wer die Gasleitung gesprengt hat. Ziemlich klar ist nur, dass es wohl ein staatlicher Akteur war - ansonsten gleicht das Setting jenem an Bord des Orient-Express von 1934 geradezu frappierend. Jeder, der in Frage kommt, hätte auch ein Motiv.

Da sind einmal, wie von Hersh insinuiert, die USA. Tatsächlich erklärte deren Präsident Joe Biden am 7. Februar 2022, also noch vor Russlands Invasion, öffentlich: "Wenn Russland in die Ukraine eindringt, Panzer und Soldaten, eine Armee, dann wird es kein Projekt Nord Stream 2 mehr geben." Die USA hatten Deutschland immer wieder vor der durch die Pipeline noch weiter zunehmende strategische Abhängigkeit von Russland gewarnt, freilich ohne Erfolg.

Aber auch der Kreml hätte Motive. Denn wenn er die Pipeline sprengt, aber es gelingt, durch Geheimdienstarbeit und ein paar naive Helfer den Verdacht auf die USA zu lenken - genau, wie das jetzt zu beobachten ist -, droht eine schwere politische Spaltung nicht zwischen Berlin und Washington, sondern zwischen anderen westlichen Alliierten. Und damit eine erhebliche Schwächung der Ukraine.

Aber auch Polen oder die Ukraine hätten Motive. Polen, weil es in der es umgehenden Pipeline von Anfang an eine strategische Bedrohung sah. Die Ukraine, weil Nord Stream 2 nicht nur eine neue Kreml-Geldquelle hätte werden können, sondern auch das ukrainische Transitgeschäft mit Gas bedrohte.

Aber auch anderen Akteuren kann man Motive nachsagen, wenn man unbedingt will und verschwörungstheoretisch begabt ist. Norwegen etwa verkauft jetzt mehr Gas für teures Geld aus seinen gewaltigen Off-Shore-Feldern nach Europa denn je zuvor; die kaputte Pipeline kommt den Skandinaviern da durchaus entgegen. Aus verschwörungstheoretischer Sicht hätten aber auch die in derartigen Operationen besonders erfahrenen Franzosen - die ihre Atomstromproduktion ausweiten und damit entsprechend verdienen wollen - Motive. Oder die Briten, ebenfalls traditionell Spezialisten für besondere Operationen und engste Alliierte der USA, aber auch der Polen und der Ukrainer.

Poirot verkündet im Roman das überraschende Ergebnis übrigens erst, nachdem er absolute Gewissheit über den Mörder erlangt hat. So weit sind wir in der Causa Nord Stream 2 noch nicht. Wer trotzdem medial das Gegenteil behauptet und irgendwen bezichtigt, betreibt bloß die Propaganda eines der Verdächtigen.