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In der Wüste ist (fast) alles möglich

Von Peter Reischer

Gastkommentare
Peter Reischer ist freier Journalist und Architekturkritiker.
© privat

Gedanken zur Verantwortung der Architektur als Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft.


Architektur ist immer (oder oft) für einen Aufreger gut, sollte man meinen, aber dem ist anscheinend nicht mehr so. Nicht einmal Megaprojekte holen noch jemanden hinter dem Ofen hervor, zumindest nicht auf der Nordhalbkugel, ein Kulturzentrum auf der von Russland unrechtmäßig annektierten Krim reicht gerade einmal für zwei Wochen Aufregung. Während in unseren Breiten Projekte (egal ob sinnvoll, notwendig oder nicht) wegen einer Siebenschläferkolonie am Bauplatz gecancelt werden, wurde in der Wüste Saudi-Arabiens eine Anlage gigantischen Ausmaßes geplant. Der Projektname: Neom.

Es ist die Bezeichnung für einen 26.500 Quadratkilometer großen Bereich am westlichen Rand Saudi-Arabiens, der an das Rote Meer und den Golf von Aquaba grenzt und eine eigene Welt darstellen wird. Dieses Gebiet - so groß wie Albanien - wird außerhalb des juristischen Systems von Saudi-Arabien liegen (keine Todesstrafe?), die Regeln werden dort von den Investoren gemacht. Es beruht auf einer Initiative des Kronprinzen Mohammed bin Salman, des faktischen Herrschers Saudi-Arabiens.

Projektierte Architekturen sind Oxagon, als achteckige Hafenstadt geplant, die am Roten Meer im äußersten Süden der Region Neom errichtet werden soll. Das Skigebiet Trojena in den Sarwat-Bergen ist im Norden der Neom-Region geplant. Das 60 Quadratkilometer große Ski- und Outdoor-Aktivitäten-Resort wird das ganze Jahr über die Möglichkeit zum Skifahren bieten und soll die Asiatischen Winterspiele 2029 ausrichten. Sindalah ist ein Inselresort im Roten Meer. Auf der 840.000 Quadratmeter großen Insel, die sich an Segler richtet, sollen ein Jachthafen mit 86 Liegeplätzen und zahlreiche Hotels entstehen.

Megalomanie, angeblich CO2-neutral

Und mit 170 Kilometern Länge, 200 Metern Breite und bis zu 500 Metern Höhe soll sich eine komplett verspiegelte, schnurgerade Struktur namens The Line durch die Wüste von Meer zu Meer erstrecken. Bis zu eine Million Menschen sollen um 2030 hier bereits leben können, 2045 soll sie fertig und komplett CO2-neutral sein.

Man hat bereits zu bauen begonnen. Sieht man die hunderten Lkw auf den im Web kursierenden Drohnenfotos, kann man sich leicht vorstellen, welche Schadstoffmengen da bereits beim Bau produziert werden. Philip Oldfield, Leiter der Fakultät für gebaute Umwelt an der University of New South Wales, schätzt, dass mehr als 1,8 Milliarden Tonnen gebundenes Kohlendioxid entstehen werden - von wegen CO2-
neutrale Architektur.

Und die Erdmassen, die für diese 170 Kilometer lange, babylonische Struktur verschoben werden, rücken das Vorhaben in die Richtung von Geo-Engineering. Hat sich jemand damit befasst, welche Umwelteinflüsse und Klimaveränderungen durch diese teilweise 500 Meter hohe Blockade der Wind- und Wetterströmungen entstehen? Was diese Spiegelwand für den Vogelzug und für Tierwanderungen bedeuten kann? Da lobe ich mir Österreich und die hiesige Bürokratie, die für ein einzelnes Windrad bereits eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorsieht und derartige Projekte und damit die notwendige Energiewende (unsinnigerweise wie auch unverantwortlich) entsprechend verzögert.

Aber in der Wüste wird gebaut. Das Gebiet, das erschlossen werden soll, ist die historische Heimat des Stammes der Huwaitat, und es wird geschätzt, dass etwa 20.000 Stammesmitglieder (mit Gewalt) umgesiedelt werden. Die BBC berichtete, mehrere Al-Huwaiti seien von saudischen Sicherheitsdiensten getötet worden. Und im vorigen Jahr berichtete die Menschenrechtsorganisation ALQST, dass drei Personen, die mit den Al-Huwaiti in Verbindung standen und im Jahr 2020 gewaltsam vom Neom-Gelände vertrieben wurden, zum Tode verurteilt worden seien.

Verantwortung kann nicht an den Landesgrenzen enden

Aber das alles findet ja in der Wüste statt, die ist groß, und wir sind weit weg - denken vielleicht einige. Aber so geht das nicht, eine Verantwortung für die Umwelt, für die Rettung unseres Klimas kann nicht an den Landesgrenzen enden. Es ist unser aller Planet - wo bleibt der internationale Aufschrei gegen dieses Projekt? Und zwar nicht nur aus Umweltgründen, auch aus menschlichen. Denn Saudi-Arabien ist nicht gerade für seine humanistischen Errungenschaften bekannt, eher für Menschenverachtung und Willkür. Nicht umsonst hat sich Norman Foster (meine Hochachtung), als bisher Einziger der mitwirkenden Architekten, nach dem Bekanntwerden der Ermordung des Journalisten Jamal Kashoggi im saudischen Konsulat in Istanbul - durch mit saudischem Geld bezahlte und saudischer Macht ausgestattete Mörder - aus dem Projekt zurückgezogen.

Auf der Neom-Homepage werden Namen von Architekturstars wie Zaha Hadid Architects (Großbritannien), UNStudio (Niederlande), Aedas (USA), Lava (Deutschland), Bureau Proberts (Australien) oder Mecanoo (Niederlande) genannt. Interessant sind auch jene Büros, die (angeblich) an The Line arbeiten und in einer Ausstellung vorkommen: die US-Büros Pei Cobb Freed & Partners, Tom Wiscombe Architecture, Oyler Wu Collaborative und HOK; die britischen Büros Adjaye Associates und Peter Cooks Studio Chap; die österreichischen Büros Coop Himmelb(l)au und Delugan Meissl Associated Architects sowie das italienische Studio Fuksas. Alles Berühmtheiten, die bis jetzt auch interessante Architekturen gestaltet haben.

Und alle sind ganz geil auf Publicity und Ruhm und lancieren fast täglich auf den einschlägigen Websites und in Online-Foren die News darüber. Stehen da das Geldverdienen und der (zweifelhafte) Ruhm über dem Gewissen? Oder ist die Fähigkeit der Architekten, sich zu verbiegen und Zusammenhänge auszublenden, schon so groß geworden? Andererseits ist es jedoch aus psychologischer Sicht völlig normal, dass Menschen, die sich vor Konsequenzen (Klimaschutzmaßnahmen und einem Wandel des Sein-Begriffes) fürchten, die Realität ausblenden und in ein perzeptives Defizit schlittern. Es macht allerdings wenig Sinn, diese sattsam bekannten Tatsachen mantraartig zu wiederholen; die Menschen sind schon abgestumpft, zum Teil verstehen sie diese auch gar nicht, schließlich ist auch in Österreich das Analphabetentum (mit 19 Prozent) weit verbreitet.

Transformation und Systemwandel

Aber eigentlich geht es in diesem (sicherlich etwas zynischen) Gastkommentar gar nicht so sehr um Architektur. Nur kann in der Architektur ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft gesehen werden. Sie prägt uns und gleichzeitig drückt sie den Zustand der Welt aus: Oben und Unten, Norden und Süden, Arm und Reich, Sicherheit und Krieg, Freiheit und Diktatu . . . ein ständig wachsendes, sich dabei ständig selbst verleugnendes System der Ausbeutung, der Profitmaximierung und Lüge. Denn was ist The Line anderes als ein Materie gewordenes Beispiel der Macht des Geldes und der Versuch, die Welt, den Planeten Erde zu beherrschen und über die faktische Realität des Klimawandels hinwegzuschauen?

Als die deutsche Ex-Kanzlerin Angela Merkel vor einiger Zeit von einer Volltransformation unserer Art des Wirtschaftens sprach, machte sie einen Fehler, die Bedeutung und den Begriff zu verharmlosen: Denn es geht um eine wesentlich weiter gehende Transformation, nämlich um den berühmten Systemwandel. Die (gewinnorientierte) Wirtschaft ist nur ein (vielleicht sogar entbehrlicher) Teil davon, die Architektur auch - aber ein wesentlicher und komplexer. Wie können wir zulassen, dass ein derartiges neuzeitliches Babylon gebaut wird? Haben wir gar nichts aus der Geschichte gelernt?

Die Klimafrage ist definitiv ein globales Problem. Es nützt dem Planeten nichts, lokale oder regionale Mandate zu erlassen und sich auf die Schulter zu klopfen. Wenn wir in Österreich Gesetze oder Normen einrichten, um die Architektur "umweltfreundlicher" zu gestalten, dann ist das sicherlich ein guter Schritt, um etwas zu verbessern nach dem Prinzip: Jeder trägt zur Veränderung, zum Wandel bei. Es ist jedoch wahrscheinlich bereits zu spät, um einigen Kipppunkten des Klimawandels zu entgehen. Der Club of Rome formuliert es in seiner jüngsten Publikation "Earth 4 All" (2022) sehr eindeutig: Wir haben nur die Wahl zwischen "too little too late" oder dem "giant leap" - beides ist keine Versicherung für die Rettung des Planeten, aber die zweite Methode scheint mir die bessere, weil "business as usual" (wie das Projekt Neom) sicher in den Abgrund führt.