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Eine neue Ära für Weltwirtschaft und Kapitalmärkte

Von Frank Engels

Gastkommentare
Frank Engels ist im Vorstand von Union Investment zuständig für das Portfoliomanagement.
© Union Investment

Fünf Trends prägen das Zeitalter der "Great Transformation": mehr Rivalität, mehr Wachstum, mehr Inflation, höhere Zinsen und höhere Volatilität.


Für Weltwirtschaft und Kapitalmärkte ist ein neues Zeitalter angebrochen. Mit dem Krieg in der Ukraine wurde der während der Corona-Pandemie begonnene Epochenwechsel vollendet. Wir befinden uns nun in einem Wachstumsregime, das von strukturellen Umbrüchen gekennzeichnet ist. Diese neue Ära der "Great Transformation" wird in den kommenden Jahren das Kapitalmarktumfeld maßgeblich prägen und Anlageentscheidungen unmittelbar beeinflussen. Dabei sind fünf wesentliche Trends auszumachen.

Mehr Rivalität: Großmachtwettbewerb ersetzt Globalisierung

Der Krieg in Osteuropa fordert nicht nur zehntausende Menschenleben und verursacht enorme Schäden, er hat auch den Übergang in eine neue Weltordnung vollendet. Auf die Globalisierung folgt der Großmachtwettbewerb um die weltweite Vormachtstellung zwischen den USA und China. Waren bisher die tonangebenden Staaten an einem internationalen System regelgebundener Kooperation interessiert, so überwiegt nun der Argwohn. In diesem Umfeld steigen die Sicherheitsbedürfnisse. Aus Sicht nationaler Regierungen erscheint es daher rational, strategische Abhängigkeiten zu reduzieren und sicherheitspolitische Risiken zu minimieren - auch um den Preis von Wohlstandsverlusten. Wirtschaftspolitik wird zu einem Teil der Sicherheitspolitik.

Der Globalisierungsschub der vergangenen 40 Jahre dürfte damit auslaufen. Wir werden weiter grenzüberschreitenden Handel und globale Produktionsketten haben. Aber Politiker und Unternehmenslenker werden künftig die Möglichkeit internationaler Krisen und weiterer Pandemien verstärkt ins Kalkül ziehen. Unter Partnern sind strategische Abhängigkeiten in den Lieferketten und speziell bei Rohstoffen kein Problem - aber diese Zeiten sind vorbei. Denn wenn Handelspartner sich zu geopolitischen Rivalen entwickeln, werden Abhängigkeiten zum existenziellen Risiko. Die Resilienz wichtiger Lieferketten und eine größere Diversifizierung bei der Energieversorgung werden zum strategischen Imperativ. Near- und Friendshoring gewinnen an Bedeutung. Mit anderen Worten: Lieferketten und Produktionsstandorte werden teilweise zurückverlagert ins eigene Staatsgebiet oder in befreundete Länder.

Mehr Wachstum: Ein Ende der chronischen Nachfrageschwäche

Insbesondere in den USA legt diese Entwicklung den Grundstein für einen physischen Investitionsboom. Die US-Regierung will in Schlüsselindustrien unabhängig von China werden und treibt den dafür notwendigen wirtschaftlichen Umbau voran. Eine Mischung aus Investitionsanreizen und aktiver Industriepolitik soll gewährleisten, dass die Lieferketten von Zukunftstechnologien wie Computerchips, Batterien, E-Autos und kritischen Mineralien vornehmlich im eigenen Land oder zumindest in befreundeten Regionen angesiedelt werden. Die USA wollen den Hauptkonkurrenten China aus diesen Bereichen ausschließen. Diese Dynamik wird weiter zunehmen, denn auch den technologisch führenden Clean-Tec-Unternehmen Europas möchte man mittels aktiver Industriepolitik Anreize für Investitionen in den USA bieten.

In der Folge dürfte langfristige Wachstumspotenzial in den USA und in Europa ansteigen. Physische Investitionen wie etwa der Bau von Fabriken haben stärkere Wachstumswirkungen als Software, da sie weniger skalierbar sind. Diese Art der Investitionen schafft mehr Jobs, erhöht die Lohnsumme und hat mehr Nachfrage zur Folge. Hinzu kommen Produktivitätssteigerungen aus einem leistungsfähigeren Produktionsapparat, besserer Infrastruktur und verstärkter Digitalisierung. Besonders spürbar dürfte der Effekt in den USA ausfallen, während in Europa zunächst das Thema Energiesicherheit höchste Priorität hat. Es besteht die Gefahr, dass die EU-Staaten Investitionen in den grünen und digitalen Wandel vorerst noch zurückstellen. Die positive Wirkung auf Europas Wachstumspotenzial könnte sich deshalb etwas verzögern.

Mehr Inflation: Resilienz schlägt Effizienz

Die Gesamtinflation dürfte sich heuer zwar weltweit abschwächen, ein nachhaltiger Rückgang auf Vor-Corona-Niveaus ist aber zumindest bei der Kerninflation nicht zu erwarten. Denn in der "Great Transformation" wirken mehrere Trends strukturell inflationstreibend. Der Investitionsboom bei Infrastruktur und neuen Produktionsstrukturen wird die gesamtwirtschaftliche Nachfrage befeuern, und nicht immer wird das Angebot Schritt halten können. In diesen Fällen wird der Markt über steigende Preise ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. Zudem wird nach den Erfahrungen von Pandemie und Ukraine-Krieg der Sicherheit der Lieferketten besondere Bedeutung beigemessen - im Zweifel auch um den Preis höherer Kosten. Die Standorte von Produktion und Lieferketten werden zunehmend nicht mehr nach den Kriterien der größtmöglichen Spezialisierung und geringer Kosten global ausgewählt, sondern die Kriterien Sicherheit und Stabilität dürften mittelfristig deutlich an Bedeutung gewinnen. Resilienz schlägt also Effizienz.

Höhere Zinsen: Kapital wird knapper

Der Investitionsboom wird sich nicht nur auf Wachstumspotenzial und Inflation auswirken, sondern auch den Gleichgewichtszins nach Abzug der Teuerung erhöhen. Kapital wird knapper, das reale Zinsniveau steigt. Einer bestenfalls gleichbleibenden Ersparnis - also dem Kapitalangebot - steht eine strukturell höhere Kapitalnachfrage gegenüber. Der Effekt auf den Preis des Geldes ist klar. Der Zins muss höher bleiben als in der vergangenen Dekade.

Wir haben allerdings im vergangenen Jahr bereits einen deutlichen Anstieg der nominalen Zinsen gesehen, nicht zuletzt aufgrund der wesentlich strafferen Geldpolitik. Die für den Kapitalmarkt wichtigen Zentralbanken in den USA und der Eurozone werden ihre Leitzinsen im ersten Halbjahr 2023 noch moderat anheben mit dem Ziel, die Realzinsen in den positiven Bereich zu heben. Auch wenn derzeit heimischen Sparern nach Abzug der aktuellen Inflation noch ein negativer Realzins verbleibt, so ist bei fallender Gesamtinflation frühestens 2024 mit positiven Realzinsen zu rechnen.

Höhere Volatilität: Real- und Finanzwirtschaft werden anfälliger

Bereits in den vergangenen Jahren waren Real- und Finanzwirtschaft relativ schwankungsanfällig. Daran dürfte sich künftig nichts ändern. Die geostrategische Unsicherheit, die sich aus dem Ukraine-Krieg und dem zunehmenden Großmachtwettbewerb zwischen den USA und China ergibt, bedingt auch eine höhere makro- und mikroökonomische Unsicherheit und damit eine höhere Finanzmarktvolatilität. Und durch den Bevölkerungsrückgang im Westen und in China wird sich der Fachkräftemangel zu einem generellen Arbeitskräftemangel ausweiten. Konjunkturelle Wachstumsphasen werden schneller zu Lohn- und Preisdruck führen, worauf Notenbanken wieder vermehrt mit restriktiver Geldpolitik reagieren müssen. In Summe bedeutet dies mehr Wachstums- und Inflationsvolatilität bei strukturell höheren Zinsen.

Folgen für die Kapitalmärkte

Die Konsequenz dieses Epochenwechsels hin zur "Great Transformation" sind Trendbrüche bei wesentlichen Merkmalen der vergangenen Jahre. Investoren sollten das neue Wachstumsregime bei der künftigen Anlagepolitik schon heute berücksichtigen. Der neutrale US-Leitzins als Anker der Zinsmärkte sollte wieder in den Bereich von 3,5 Prozent steigen. Damit sind Anleihen für viele Anleger wieder zurück im Spiel. Die Rentenmärkte stehen vor einer Renaissance. Technisch gesprochen verflacht sich die Rendite-Risiko-Linie an den Kapitalmärkten, Anleihen gewinnen also relativ gegenüber Aktien nach und nach an Attraktivität. Im Ergebnis sind viele Investorengruppen nicht mehr gezwungen, für die Erreichung ihrer Ertragsziele ein hohes Risiko zu nehmen.

Die Entwicklung an den Aktienmärkten dürfte künftig weniger stark von Wachstumstiteln abhängen. Denn seit der globalen Finanzkrise war Wachstum knapp, und Investoren waren bereit, einen Aufschlag auf entsprechende Werte zu bezahlen. Mit dem höheren Wachstumsniveau entfällt dieser Anreiz, und Substanzwerte werden attraktiver. Eine ausgewogene Allokation bei Aktien erscheint daher ratsam.

Bei der Aktienselektion sollte Fokus stärker auf die Gewinnmargen gelegt werden. Seit 1999 fußte das Gewinnwachstum der Unternehmen zu einem großen Teil auf Margenausweitungen und Umsatzwachstum. In der Ära der "Great Transformation" kommen die Gewinnmargen unter Druck. Ineffizientere Lieferketten, ein knapperes Arbeitskräfteangebot und höhere Zinsen werden die Kosten steigen lassen. Nicht jedes Unternehmen wird diese Belastungen durch Preissteigerungen auffangen können. Damit gewinnen stabile oder gar steigende Gewinnmargen an Bedeutung für den Anlageerfolg. Besonders aussichtsreich dürften daher Unternehmen sein, die beständige und hohe Gewinnmargen aufweisen oder aber gering verschuldet sind, ganz unabhängig von Branchen und Regionen. Herausforderungen gibt es hingegen für frühere Globalisierungsgewinner.

Einige Trends schon sichtbar

Nicht alle, aber einige Trends der "Great Transformation" wirken bereits heute auf das Kapitalmarktumfeld. Höhere Inflation und Zinsen oder auch die bessere Wertentwicklung von Substanzwerten auf der Aktienseite sind erste Vorboten des neuen Wachstumsregimes, wie die vergangenen Monate gezeigt haben. Es ist damit zu rechnen, dass diese Entwicklung anhalten dürfte. Zudem werden wohl Rohstoffe (insbesondere Industriemetalle), Aktien (vor allem Infrastrukturwerte) und inflationsgeschützte Anleihen die langfristigen Profiteure des anbrechenden Investmentzeitalters sein.