Österreichs Außenpolitik fehlt sowohl ein Generalplan als auch ein Sicherheitsplan. Der Militärexperte Gustav Gressel kritisierte in der "Presse am Sonntag" (12. Februar), viele Österreicher seien der Ansicht sind, unser Staat sei ein Vermittler in der Weltpolitik - übrigens nicht ganz zu Unrecht, weil sich seit Jahren diverse österreichische Regierungen damit brüsten. Gressel ist aber zuzustimmen, dass diese Botschaften unserer Regierungen reines Wunschdenken darstellten, weil zumindest derzeit als einzig ernstzunehmender Vermittler für Konflikte die Türkei anzusehen ist.

Nikolaus Lehner war vormals 45 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist seither Kurator und Kommentator.
- © Gregor SchweinesterAber einem weiteren Gedankenfluss Gressels ist heftig zu widersprechen: Die Neutralität Österreichs ist eine Verfassungsbestimmung, und wenn ein Militärexperte dies als "Folkloremärchen" bezeichnet, ist das sogar schon frevelhaft. Gressel meint, dass bei einem "Zusammenbruch der Nato unter dem Druck eines russischen Angriffs das Bundesheer auch nicht in der Lage wäre, das Ruder herumzureißen" - aber inwiefern könnte die Republik Österreich und mit ihr das Bundesheer überhaupt in diese Verlegenheit kommen, wo wir doch militärische neutral sind?
Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Wladimir Putin seit einem Jahr vergeblich versucht, die Ukraine zu besiegen. Warum sollte dann die Nato, wenn ein Mitgliedstaat von Russland angegriffen wird, zusammenbrechen? Es wird noch unverständlicher, wenn Gressel hinzufügt, es sei "im Interesse Österreichs, der Nato dabei zu helfen, dass es nicht so weit kommt"; dieser Gedanke ist völlig unrealistisch.
Andererseits sieht er uns in einigen Bereichen als Sicherheitsrisiko für den Westen. Ich aber bin überzeugt, dass es sich de facto umgekehrt verhält, weil der Westen für uns ein Sicherheitsrisiko darstellt, da er seit Jahrzehnten die fortschreitende Eskalation durch Putin zwar sehenden Auges verfolgt hat, beginnend mit Georgien, Tschetschenien, Donbass und Krim - endlich aufgewacht ist er aber erst nach der Aggression Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022.
Vorherrschend ist die These, Neutralität sei gleichbedeutend mit Blockfreiheit, also eine Form der Allianzfreiheit. Die überwiegende Mehrheit der österreichischen Bevölkerung meint zu Recht, dass wir uns nach menschlichem Ermessen als neutraler Staat sicherer fühlen können. Als Nato-Mitglied wären wir verpflichtet, jedem Nachbarstaat von Russland militärisch beizustehen. Dazu wären wir aus strikten Neutralitätsgründen gar nicht befugt und darüber hinaus auch militärisch nicht befähigt.
Vorrang für die Neutralität
Es muss endlich eine außenpolitische Gesamtstrategie entwickelt werden, indem man sich Kernziele setzt unter Bedachtnahme auf allenfalls sich ändernde Verhältnisse mit einem möglichst effektiven Grundkonsens. Durch den Beitritt Österreichs zur UNO entstand ein Spannungsverhältnis zur Neutralität. Professor Alfred Verdross löste dieses in seiner Vorlesung an der Juridischen Fakultät, indem er festhielt, dass man Österreich nicht zu Maßnahmen zwingen könne, die seine Neutralitätspflichten nicht berücksichtigen. Diese "Verdross-Doktrin" führt aus, dass man den Neutralitätspflichten den Vorrang zur Verpflichtung zur Solidarität zuzubilligen hat.
Mit dem Zerfall der Habsburger-Monarchie und der Aufteilung dieses riesigen Reiches in eine Reihe kleinerer Staaten verblieb dann "Restösterreich", das auch außenpolitisch völlig unbedeutend war und ist. Eine Ausnahme stellt die Ära Bruno Kreiskys dar, weil wir damals als gewichtigerer Staat eingestuft wurden, als es uns tatsächlich zustand, wobei diese Strahlkraft von Kreiskys außenpolitischen Eskapaden abhängig war. Später, vor gar nicht allzu langer Zeit, hat auch Sebastian Kurz eine Netzwerkdiplomatie entwickelt, wodurch der Glanz der Kreisky-Zeit zumindest in Österreichs Außenpolitik wiederhergestellt wurde. Bedauerlicherweise - was die Außenpolitik betrifft - war die Ära Kurz noch kürzer als die Ära Kreisky.
Aktuell sehe ich das größte Problem in der Position unseres Außenministers, der zwar ein gestandener Diplomat, aber als Politiker überfordert ist. Weiters fehlt uns ein Leitfaden, um in der Öffentlichkeit ein größeres Interesse zu erwecken; die öffentlichen Debatten sind rudimentär, die Diskurse im Parlament minimalistisch, alle außenpolitischen sogenannten Experten der demokratischen Parteien nicht als solche anzusehen und können deshalb auch kein Gewicht einbringen.
Als Beobachter vermisse ich eine gewichtige Lehre und Grundlagenforschung mit Ausnahme von Gerhard Mangott (Universität Innsbruck), der diplomatischen Akademie in Wien sowie der Heeresakademie, über die man allerdings kürzlich lesen musste, dass ihr angeblich dilettantische Fehler bei der Bestandsaufnahme für die Außenpolitik vorgeworfen werden, was sie zu entkräften versucht. Beruhigend wirkt hier sicher nicht die eben erfolgte autokratische Ernennung des vom Heeresmuseum abberufenen Direktors als Leiter der Heeresstrategie, ohne in einem Hearing den geeignetsten Kandidaten herauszufiltern.
Studien fehlen
Durch den EU-Beitritt wurde Österreichs Außenpolitik wesentlich verändert, weil auch außenpolitische Agenden an die EU übertragen wurden, und für die restlichen Agenden müsste eine effizientere permanente Koordination erfolgen. Dafür wurde Österreichs Position durch die Mitgliedschaft im Allgemeinen gestärkt und dadurch auch das ausbaufähige Interesse an der Außenpolitik und der Infrastruktur gefördert.
Auffallend finde ich, dass zwar permanent Studien in der österreichischen Innenpolitik und zur Pandemie verfasst wurden, aber nie zur österreichischen Außenpolitik. Ich denke, dass es sehr wertvoll wäre, Befunde zu implementieren, um die Möglichkeiten für Österreichs Außenpolitik zu eruieren für eine stärkere Beteiligung bei internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen, Europarat, EU, OSZE. Ich kenne auch keine Studien, in denen untersucht wurde, inwieweit es Österreich als Kleinstaat durch die EU-Mitgliedschaft gelungen ist, an Format zu gewinnen.
Spannend wäre auch eine Untersuchung bezüglich des Konkurrenzverhältnisses von Innen-, Außen-, Justiz und Verteidigungsministerium, um ein erfolgreiches Zusammenspiel im Rahmen der Sicherheitspolitik zu bewirken, oder des Einflusses einer (grünen) Partei im Rahmen der Umwelt-, Klima- und Migrationspolitik sowie des Populismus (besonders extrem in der FPÖ). Ich vermisse eine Studie zur Nachbarschaftspolitik, weil diese doch historisch geprägt ist, etwa durch Spannungen mit Italien, aber auch das Verhältnis zu Ungarn und den Nachfolgestaaten von CSSR und Jugoslawien war meist aufregend.
Sehr lehrreich und nachahmenswert wäre die durch Untersuchungen erleichterte Wahrnehmung der Erfolge der österreichischen Außenpolitik durch den Umstand der Installierung von Hauptsitzen internationaler Organisationen. Und ich vermisse Analysen, inwieweit besonders prägende Persönlichkeiten wie Kreisky, Alois Mock oder Kurz als Außenminister im Triangel zur Position des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten gestaltet und auch die dominanten Ministerien wie Außen-, Innen- und Verteidigungspolitik harmoniert beziehungsweise konkurriert haben, siehe die Causa BVT, das Verhältnis zum Parlament und vieles mehr.
Ich bin überzeugt, dass man Lösungen für die Problematik Österreichs als Hauptsitz der OSZE finden kann, um zumindest eine weitere Gesprächsbasis für verfeindete Gruppierungen zu gewährleisten. Ich vermisse auch eine massive Reaktion des Außenministeriums zur Behauptung des russischen Botschafters über eine angebliche Erosion unseres Neutralitätsstatus. Ich denke, das Außenministerium hätte auch verhindern müssen, dass die Republik noch Soldaten nach Mali entsendet, nachdem die Gefahrenlage durch die Unterminierung von Mali durch Russland beziehungsweise Wagner-Söldner allgemein bekannt war.
Abschließend fordere ich eine Erhebung von Langzeitdaten über die Haltung der österreichischen Bevölkerung zur österreichischen Außenpolitik, insbesondere zur österreichischen Neutralität.