Zum Hauptinhalt springen

Der multikausale Crash des Nationalrats am 4. März 1933

Von Franz Schausberger

Gastkommentare
Franz Schausberger ist Universitätsprofessor für Neuere Österreichische Geschichte, ÖVP-Politiker, ehemaliger Landeshauptmann von Salzburg und Präsident des Karl-von-Vogelsang-Instituts.

Die Hintergründe der "Selbstauflösung" vor 90 Jahren, die zum Ständestaat führte.


Es ging wieder einmal um einen Eisenbahnerstreik, der - wie schon so oft - gravierende innenpolitische Auswirkungen haben sollte. Der Demonstrationsstreik vom 1. März 1933 führte zur "Selbstauflösung" des österreichischen Nationalrats. Die Rolle der drei Nationalratspräsidenten Karl Renner, Rudolf Ramek und Sepp Straffner soll, obwohl schon vielfach dargestellt, 90 Jahre danach noch einmal ausführlich dargestellt werden.

Aufgrund der fehlenden finanziellen Mittel und der katastrophalen wirtschaftlichen Situation der Österreichischen Bundesbahnen, die im Jahr 1923 aus der Hoheitsverwaltung ausgegliedert und privatwirtschaftlich geführt wurden, sollte die Bezahlung der Märzgehälter in drei Raten erfolgen, was von der Eisenbahnergewerkschaft entrüstet abgelehnt und mit einer Streikdrohung beantwortet wurde. Der neue Generaldirektor der Bundesbahnen, Anton Schöpfer, bemühte sich in Verhandlungen um eine Lösung, allein der Streikbeschluss war bereits gefasst. Die Eisenbahnbediensteten traten am 1. März 1933 zwischen 9 und 11 Uhr in den Streik.

Der Streik war von der nationalen Gewerkschaft, die zu 80 Prozent aus Nationalsozialisten bestand, ausgegangen und von dieser als politische Aktion gegen die Regierung angesehen worden. Die Deutsche Verkehrsgewerkschaft hatte den Streik als eindeutig gegen die Regierung gerichtet deklariert. Der Streik muss auch im Zusammenhang mit dem damals in Deutschland laufenden, von nationalsozialistischem Terror dominierten Wahlkampf gesehen werden, der seine Schatten auch nach Österreich warf. In der mittleren und höheren Beamtenschaft der Österreichischen Bundesbahnen dominierten bereits die Nationalsozialisten.

Gegen wen richtete sich der Streik?

Kanzler Engelbert Dollfuß sah daher den Streik vor allem als politische Aktion der Nationalsozialisten und auch der Sozialdemokraten gegen die Regierung an. Die Regierung, die sich auf eine in Geltung stehende kaiserliche Verordnung aus dem Jahr 1914 berief, ließ zahlreiche Verhaftungen vornehmen, ordnete Lohnkürzungen an und sprach erste Entlassungen aus. 42 am Streik beteiligte höhere Beamte wurden suspendiert.

Interessant ist die Kommentierung des "verunglückten Proteststreiks" durch den der Regierung sehr kritisch gegenüberstehenden "Österreichischen Volkswirt" vom 4. März 1933. Der Streik sei nur daraus zu erklären, "dass in diesem Betrieb drei Gewerkschaften in Wettbewerb stehen, deren keine sich von der anderen überbieten lassen kann. [...] Die Eisenbahnergewerkschaften scheinen noch nicht bemerkt zu haben, in welcher Zeit wir leben. Die Sozialdemokratie im besonderen [...] sollte nicht mehr so tun können, als ob der Streik eine Schablone wäre, anwendbar gegen jede Unbill, ohne Bedachtnahme auf die Weltlage, die Finanzlage und darauf, ob man mit dem Streik überhaupt das erzwingen kann, worum es geht."

Am 4. März 1933 eröffnete Nationalratspräsident Renner die Sitzung um 15.15 Uhr. Auf der Tagesordnung stand eine dringliche Anfrage der Sozialdemokraten (später in einen Antrag umgewandelt), in der verlangt wurde, dass die Generaldirektion der Bundesbahnen an ihre Bediensteten die Bezüge voll ausbezahlen und keinerlei Maßregelungen verfügen beziehungsweise alle veranlassten zurückzunehmen solle.

Eine zweite dringliche Anfrage der Großdeutschen wies darauf hin, dass auch früher bei Streiks, auch wenn sie aus politischen Gründen erfolgten, keine Maßregelungen eingeleitet wurden. Es sollten daher die Streikenden gleich - nämlich ohne Sanktionen behandelt werden.

Die Sozialdemokraten versuchten nachzuweisen, dass der Streik kein politischer Streik gegen die Regierung gewesen sei, sondern ein Streik zur Abwehr wirtschaftlicher Schäden, nachdem am 16. Februar von den Bundesbahnen mitgeteilt worden war, dass die Bezüge und Pensionen im März nur noch zu 60 Prozent in zwei Tranchen ausbezahlt werden könnten. Die restlichen 40 Prozent wurden nur in Aussicht gestellt, wenn genügend Geld vorhanden sei.

Die Großdeutschen zeigten sich dem Streik gegenüber grundsätzlich skeptisch, da er für das Eisenbahnpersonal keinen Erfolg und für das Unternehmen Schaden gebracht habe. Sie forderten die Rückführung der Bundesbahnen in die Hoheitsverwaltung und damit die Gleichstellung der Bundesbahnangestellten mit den Bundesangestellten.

Es ging nur noch um eine Differenz von fünf Tagen

In Wahrheit hatten die Bundesbahnen gegenüber den Gewerkschaftern die Zusicherung abgegeben, dass die Auszahlung der Märzrate am 21. März sichergestellt sei. Es ging also nur noch um eine Differenz von fünf Tagen, nämlich um die Auszahlung der letzten Rate am 21. statt am 15. März. Die Generaldirektion versuchte dafür einen Privatbankkredit zu erhalten, was aber zur unerlässlichen Voraussetzung gehabt hätte, dass der Streik unverzüglich abgesagt worden wäre. Die Christlichsozialen forderten, die Erhebungen der Bundesbahn-Generaldirektion gegen Streikteilnehmer sofort zum Abschluss zu bringen und Härten zu vermeiden.

Bundeskanzler Dollfuß bezeichnete es als unverständlich, dass die Frage, ob die Auszahlung der Bezüge am 15. oder 21. des Monates erfolgen solle, zur Anwendung des äußersten gewerkschaftlichen Mittels geführt habe, weshalb es sich eindeutig um einen politischen Streik gehandelt habe. Außerdem verteidigte Dollfuß die Geltung der von der Regierung angewandten Verordnung aus dem Jahr 1914 und erinnerte die Opposition daran, dass sie nach der Gründung der Republik genügend Möglichkeiten gehabt hätte, diese Verordnung zu beseitigen. Man habe sich aber damals gedacht: "Wer weiß, wozu diese Verordnung einmal gut ist."

Dann kann es zu den Abstimmungen. Es soll im Detail dargestellt werden, welche Partei wie gestimmt hat. Bei der ersten Abstimmung waren 163 Abgeordnete anwesend, bei der zweiten Abstimmung nur noch 162, da der aus der SDAP ausgeschlossene Abgeordnete Franz Zelenka die Sitzung verließ. Der jeweilige vorsitzführende Präsident durfte nicht mitstimmen. Der Antrag der Sozialdemokraten wurde mit 91 Nein-Stimmen zu 70 Ja-Stimmen eindeutig abgelehnt. Die anwesenden 70 sozialdemokratischen Abgeordneten stimmten geschlossen für ihren Antrag. 65 christlichsoziale Abgeordnete, 9 Landbund-Abgeordnete, 6 Heimatblock-Abgeordnete, 8 Großdeutsche Abgeordnete sowie die beiden parteifreien Abgeordneten Josef Hainzl und Hans Ebner (ehemals Heimatblock) und der parteifreie Abgeordnete Josef Vinzl (ehemals Nationaler Wirtschaftsblock), also insgesamt 91 Abgeordnete stimmten dagegen.

Der Antrag der Großdeutschen, gegen die Streikenden keinerlei Maßnahmen zu ergreifen, wurde mit 81 Ja- gegen 80 Nein-Stimmen angenommen. Wie kam diese Mehrheit zustande? 70 Sozialdemokraten, 8 Großdeutsche und die zwei parteifreien, ehemaligen Heimatblock-Abgeordneten sowie der ehemalige Wirtschaftsblock-Abgeordnete Vinzl, also insgesamt 81 stimmten für den großdeutschen Antrag, 65 Christlichsoziale, 9 Landbündler und 6 Heimatblock-Abgeordnete, also 80, votierten dagegen.

Die Opposition hatte um eine Stimme mehr

Die Opposition hatte also an diesem Tag 81 Stimmen (ohne Präsident Renner), die Regierungsparteien nur 80. Wären alle 165 Abgeordneten anwesend gewesen, wären - bei gleichem Abstimmungsverhalten - die Regierungsparteien mit 81:84 Stimmen noch deutlicher in der Minderheit geblieben. Dies ist für den weiteren Verlauf der Sitzung von großer Bedeutung.

Das Ergebnis bedeutete eine schwere Niederlage der Regierungsparteien. Über die Frage, ob der christlichsoziale Antrag damit hinfällig sei oder abgestimmt werden müsse, entstand eine sehr heftige, ergebnislose Diskussion, weshalb Präsident Renner die Sitzung für eine fast einstündige Präsidiumssitzung unterbrach, in der neue Schwierigkeiten auftauchten, die dann schließlich zu den schicksalhaften Ereignissen führten.

Es kam nämlich zutage, dass es bei beiden Abstimmungen zu Ungereimtheiten gekommen war. Während die Tatsache, dass bei der Abstimmung über den sozialdemokratischen Antrag von einem Abgeordneten zwei Stimmzettel abgegeben worden waren, am Gesamtergebnis nichts änderte, war der zweite Fall betreffend die Abstimmung über den großdeutschen Antrag wegen des äußerst knappen Ergebnisses von einer Stimme Mehrheit wesentlich sensibler.

Präsident Renner musste in der wieder aufgenommenen Nationalratssitzung Folgendes bekanntgeben: "Sowohl der Herr Abgeordnete Abram als auch sein Sitznachbar Scheibein waren bei dieser in Rede stehenden Abstimmung zugegen. Der Beamte weiß, dass beide einen Stimmzettel abgegeben haben. Nun waren aber zwei Stimmzettel Abram und kein Stimmzettel Scheibein. Es muss also entweder schon in der Lade versehentlich eine Vermischung vorgelegen sein oder eine Verwechslung durch den Abgeordneten Scheibein."

Und dann versuchte Renner über diesen bei einem so knappen Ergebnis gravierenden Abstimmungsmangel einfach hinwegzugehen: "Da es aber außer allem Zweifel ist, dass beide persönlich ihre Stimme abgegeben haben und darüber gar kein Streit entstehen kann, so ist dadurch, dass zweimal Abram erschienen ist, keine Änderung im Stimmenverhältnis eingetreten und eine Korrektur nicht notwendig."

Heftiger Protest der Regierungsparteien gegen Unstimmigkeiten bei der Abstimmung

Diese Haltung Renners rief nun - durchaus verständlich - den heftigsten Protest der Regierungsparteien hervor. Der Präsident wollte zur Tagesordnung übergehen, die Christlichsozialen bestanden auf einer geschäftsordnungskonformen Lösung, die ein Ergebnis von 80:80 gebracht hätte, womit der Antrag abgelehnt gewesen wäre. Die Christlichsozialen meinten - nicht ganz unlogisch -, dass formal nicht Abram für Scheibein stimmen konnte und daher eine Stimme ungültig und das Abstimmungsergebnis zu korrigieren sei. Bei genauer Lektüre des stenografischen Protokolls zeigt sich, dass Präsident Renner bei der Bekanntgabe des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Abgeordneten bei den Ja-Stimmen zweimal den Namen Abram, nicht aber den Namen Scheibein vorgelesen hatte. Schon zu diesem Zeitpunkt - also vor der Unterbrechung zur Präsidialkonferenz - hätte Renner auf diese Ungereimtheit hinweisen müssen. Er tat es nicht.

Nach längerer, emotionaler Debatte erklärte Präsident Renner, dass es unmöglich sei, den Vorsitz zu führen, wenn ein so großer Teil des Nationalrats den Entscheidungen des Vorsitzenden widerspreche. Er legte daher seine Stelle als Präsident nieder und setzte sich auf seinen Abgeordnetenplatz.

Der damalige Sekretär von Präsident Renner, der spätere Bundespräsident Adolf Schärf, erinnerte sich, wie es zu diesem Rücktritt kam. "In der Erörterung darüber, ob man die Abstimmung wiederholen solle oder nicht, legte sich der engste Führungskreis der Partei fest, ohne dass man die anwesenden Abgeordneten selbst befragt hätte. [...] Es war aber schwer, gegen die Tatsache anzukämpfen, dass die verkündete Mehrheit mit einer ungültigen Stimme zustande gekommen war. Während nun die Mitglieder des Abgeordnetenklubs in den Wandelhallen außerhalb des Sitzungssaales standen, entschlossen sich die vier Mitglieder der [sozialdemokratischen] Parteiexekutive, dem Präsidenten Dr. Renner die Demission aufzutragen, damit er im Falle einer vielleicht doch nicht vermeidbaren Wiederholung der Abstimmung mitstimmen könne - was ihm als Vorsitzenden nach der Geschäftsordnung versagt war. [...] Ich [Schärf] sollte Dr. Renner diesen Auftrag überbringen. Mich befiel eine trübe Ahnung, es schien mir nicht gehörig, dass ein solcher Entscheid ohne Beschluss des Parteivorstandes oder des Abgeordnetenklubs erfolgte, ich erklärte: ‚Ich überbringe diese Nachricht an Dr. Renner nur dann, wenn ein Mitglied der Exekutive mit mir zu ihm geht‘. Das geschah auch. Dr. Renner fügte sich ohne ein Wort der Widerrede und demissionierte."

Alle drei Nationalratspräsidenten legten ihr Amt nieder

Die Mitglieder der Klubexekutive, die Renner den Auftrag zum Rücktritt erteilten, waren Otto Bauer, Robert Danneberg, Albert Sever und Karl Seitz. Renner trug durch sein Verhalten an diesem 4. März 1933 "durch seine bedingungslose Parteidisziplin und Sorglosigkeit hinsichtlich der Geschäftsordnung entscheidend dazu bei, den Parlamentarismus vollends in Verruf zu bringen", stellte der Historiker Walter Rauscher später fest. Bauer war mitverantwortlich für die Parlamentskrise des 4. März und gestand diesen Fehler später auch ein. Auch Schärf ließ in seinen Erinnerungen keine Zweifel daran, dass er das Vorgehen seiner Parteigenossen für einen gravierenden Fehler hielt: "Beide, weder Bauer noch Seitz, bedachten aber, dass es doch nicht angängig sei, einerseits für die Sozialdemokratie als die relativ stärkste Partei Funktion und Amt des ersten Präsidenten zu fordern, anderseits jedoch, wenn die Ausübung dieses Amtes der Partei sozusagen ein Opfer auferlegte, sofort nein zu sagen."

Nun musste Ramek als Zweiter Präsident den Vorsitz übernehmen und erklärte: "Mit Rücksicht auf den Widerspruch, der von einem großen Teil des Hauses gegen den früheren Vorgang bei der Abstimmung erhoben wurde, bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Abstimmung für ungültig zu erklären." Seine Absicht, die Abstimmung zu wiederholen, wäre tatsächlich die einzig korrekte Vorgangsweise gewesen. Doch dagegen gab es stürmischen Widerspruch seitens der Sozialdemokraten. Daraufhin erklärte Präsident Ramek unter Beifall der Regierungsfraktionen: "Da der von mir enunzierte Vorgang die Zustimmung eines großen Teiles des Hauses nicht findet, lege ich meine Stelle als Präsident nieder."

Ramek hatte vorerst das Spiel mit dem taktischen Rücktritt, um auch mitstimmen zu können, nicht vorgehabt. Sicher nicht zum Wohlgefallen seiner Fraktion. Mit seinem Aufruf zur Wiederholung der Abstimmung hätte er nämlich einen Abstimmungssieg der Opposition gesichert. Auch wenn es den Regierungsfraktionen gelungen wäre, einen wankelmütigen Großdeutschen auf ihre Seite zu ziehen, wären sie in der Minderheit geblieben. Völlig ungerechtfertigt polemisierte Seitz gegen die Wiederholung der Abstimmung und löste damit den Rücktritt Rameks aus. Hätte die sozialdemokratische Fraktion die Vorgangsweise Rameks akzeptiert, wäre die Abstimmung eindeutig für sie ausgegangen.

Dies kreidete der sozialdemokratische Abgeordnete Wilhelm Ellenbogen in einer späteren Rückschau seinem Parteigenossen Seitz an: "Als der christlichsoziale Vizepräsident Ramek nun eine neue Abstimmung anordnen wollte, protestierte Seitz in seiner viel zu weit getriebenen Vorliebe für formal-juristische Feinheiten gegen die Anordnung dieser Abstimmung, worauf [...] der dem Faschismus gar nicht wohlgesinnte [...] Ramek ebenfalls seine Präsidentenstelle niederlegte."

Der daraufhin den Vorsitz übernehmende großdeutsche Präsident Straffner stellte sofort fest: "Da sich das Haus über die Streitfälle, die das Haus aufgrund der Abstimmung eben beschäftigen, nicht einigen kann, bin ich nicht in der Lage, die Sitzung des Hauses weiterzuführen, und lege ebenfalls meine Stelle als Präsident nieder." Auch seine Stimme hätte bei einer Wiederholung der Abstimmung der Opposition gefehlt. Unter lebhaften Rufen verließen die Abgeordneten um 21.55 Uhr den Sitzungssaal. Das parlamentarische und demokratiepolitische Unheil konnte seinen Lauf nehmen.

Die politische Gesamtsituation hatte sich grundlegend geändert

Über die Frage, wie die Entwicklung in dieser Nationalratssitzung verhindert hätte werden können, wurden schon viele Spekulationen angestellt. Tatsache war, dass das Ergebnis der Abstimmung über den großdeutschen Antrag nicht korrekt und nicht geschäftsordnungsgemäß zustande gekommen war. Zur Lösung der Krise gab es nur zwei Optionen: das Ergebnis auf 80:80 zu korrigieren, was die Ablehnung des Antrags bedeutet hätte, oder die Abstimmung zu wiederholen. Wie schon dargestellt, hatte die Opposition an diesem Tag eine Mehrheit von 82 Stimmen gegen - wenn Ramek den Vorsitz führte - 79 Stimmen der Regierungsparteien. Es ist daher völlig unverständlich, dass die Sozialdemokraten gegen die Absicht Rameks, die Abstimmung zu wiederholen, wütenden Widerstand leisteten. Bei einer neuerlichen Abstimmung wäre die Ungereimtheit bereinigt und die Mehrheit mit ziemlicher Sicherheit sogar noch größer gewesen.

Vor lauter blindem Eifer, ihre Eisenbahnerklientel vor Streiksanktionen zu schützen (zu denen Christlichsoziale und Regierung bereits ein sehr mildes Vorgehen signalisiert hatten), übersahen die Sozialdemokraten, dass sich aktuell die politische Gesamtsituation grundlegend geändert hatte. Adolf Hitler hatte fünf Wochen vorher, am 30. Jänner 1933, in Deutschland die Macht ergriffen. Der unter dem Eindruck der beginnenden Diktatur des Nationalsozialismus abgelaufene Wahlkampf in Deutschland, der einen Tag nach der schicksalhaften Nationalratssitzung in Österreich im Sieg der Nationalsozialisten und schließlich in der neuerlichen Bildung einer Regierung unter Führung Hitlers mündete, brachte die Regierung Dollfuß nicht nur im Inneren, sondern auch von außen unter enormen Druck.

Otto Bauer sah dies sehr bald ein und resümierte schon 1934: "Am folgenden Tag erkämpfte Hitler in Deutschland seinen großen Wahlsieg; wir hatten im Eifer [...] die Eisenbahner zu schützen, nicht bedacht, welchen unmittelbaren Einfluss die Umwälzungen in Deutschland auf Österreich üben konnten. So haben wir durch Renners Demission der Regierung Dollfuß den Vorwand zur Ausschaltung des Parlamentes geliefert: Das war unzweifelhaft eine ‚linke Abweichung‘".

Die unversöhnliche Oppositionspolitik der Sozialdemokraten

Bei der Beurteilung der weiteren innenpolitischen Ereignisse in Österreich darf also nicht nur die Sitzung des Nationalrats vom 4. März 1933 als punktuelles Ereignis betrachtet werden, sondern muss auch die generell unversöhnliche Oppositionspolitik der Sozialdemokraten und deren, von Parteiinteressen geprägtes Taktieren einbezogen werden. Man darf nicht vergessen, dass die verzweifelten Versuche von Bundeskanzler Dollfuß im April 1932, die Sozialdemokraten in eine Regierung einzubinden, an deren rein parteitaktischen Überlegungen gescheitert waren. Eine monokausale Erklärung und eine apodiktische einseitige Schuldzuweisung (soweit diese überhaupt einen Sinn gibt) sind nicht möglich.

Ramek jedenfalls wies im christlichsozialen Klubvorstand immer wieder auf die (wenn auch mageren) Möglichkeiten der Geschäftsordnung zur Sanierung der Lage hin. Dollfuß aber war nicht mehr bereit, diese Möglichkeiten zu nutzen. Auch im Bundesrat gab es seit den großen Erfolgen der NSDAP bei den Landtagswahlen 1932 eine Mehrheit aus Sozialdemokraten und Nationalsozialisten (die dieses Forum sofort radikalisierten) gegenüber der Regierung. Der zunehmende Druck des siegreichen Nationalsozialismus in Deutschland, das politische Drängen seitens des faschistischen Italien, die Tatsache, dass zu diesem Zeitpunkt in mindestens elf Ländern Europas autoritäre beziehungsweise diktatorische Regime herrschten und die totale Nicht-Bereitschaft der Sozialdemokraten in Österreich zu irgendeiner Zusammenarbeit sollen hier nicht als Verharmlosung dessen, was in der Folge passierte, verstanden werden, sondern zum besseren Verstehen beitragen.