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Aufarbeiten - wie könnte dies gelingen?

Von Christoph E. Mandl

Gastkommentare
Christoph E. Mandl ist Privatdozent an der Universität Wien, Lehrbeauftragter an der Universität für Bodenkultur, Gerichtssachverständiger für Wirtschaftsinformatik sowie Autor des Buches "Managing Complexity in Social Systems".
© privat

Jenseits der Glaubensspaltung hat die Frage, was wir aus Corona für die nächste Pandemie lernen, ihre Berechtigung.


Seitdem Laurenz Ennser-Jedenastik, Assistenzprofessor am Institut für Staatswissenschaft der Universität Wien, festgestellt hat, dass bei der heurigen Landtagswahl in Niederösterreich die ÖVP in jenen Gemeinden am meisten Stimmen verloren hat, in denen die wenigsten geimpft sind, und umgekehrt die FPÖ in genau diesen Gemeinden am meisten gewonnen hat, ist das Aufarbeiten der Pandemiekrise wieder einmal zum politischen Thema geworden.

Ob eine solche Aufarbeitung - egal in welcher Form - geeignet ist, einer realen oder vermuteten Polarisierung in der Gesellschaft entgegenzuwirken, sei dahingestellt. Zu viele persönliche Erfahrungen, zu viel Gehörtes, zu viel selektive Wahrnehmungen, zu viele gegenseitige Abwertungen und Geringschätzungen haben Meinungen in die eine oder andere Richtung einzementiert.

Wie realitätsnahe die medial kolportierten, in den Sozialen Medien verbreiteten oder von Fachleuten vertretenen Sichtweisen waren, darüber lässt sich zwar trefflich streiten, aber ob sich dadurch bereits tief verankerte Meinungen verschieben, wird sich zeigen. Eine Glaubensspaltung ist vom "Vater Staat" allein schwer zu überwinden - insbesondere wenn dieser an einer solchen mitgewirkt hat -, dazu bedarf es wohl auch des aufeinander Zugehens im persönlichen Bereich und dem Respektieren anderer Ansichten.

Jenseits der Glaubensspaltung hat indes die Frage, was wir aus der zu Ende gehenden für die nächste Pandemie lernen, ihre Berechtigung. Aber wie könnte dies gelingen?

Rahmenbedingungen sind essenziell

Seit dem Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" von Nobelpreisträger Daniel Kahneman ist bekannt, dass wir zu sogenannten kognitiven Verzerrungen - zu systematischen fehlerhaften Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen - neigen. Davor sind auch Expertinnen und Experten nicht gefeit. Zwei solcher Phänomene stehen dem Lernen besonders im Weg: Bestätigungsfehler bezeichnet die Tendenz, Informationen so auszuwählen, zu ermitteln und zu interpretieren, dass diese die eigene Meinung bestätigen. Eskalierendes Commitment beschreibt die Tendenz, eine früher getroffene Entscheidung zu stützen, obwohl sich diese Entscheidung als ineffektiv oder falsch erwiesen hat.

Um daher allfällige kognitiven Verzerrungen hintanzuhalten, ist es wichtig, dass die Aufarbeitungskommission aus Fachleuten besteht, die zu keinem Zeitpunkt an den Pandemieverordnungen und -maßnahmen mitgewirkt oder sich medial dazu geäußert haben. Dieses Prinzip ist bei Gericht altbekannt, soll es doch verhindern, dass Geschworene mit einer vorgefassten Meinung eine Sachlage beurteilen.

Eine Kommission ist so gut, wie sie Vielfalt repräsentiert. Maßnahmen zur Abschwächung einer Pandemie haben leider nicht nur erwünschte, sondern auch unerwünschte Wirkungen. Daher sollte eine Kommission aus Personen bestehen, die nicht nur über Expertise in Medizin und Computersimulation verfügen, sondern auch in besonders betroffenen gesellschaftlichen Bereichen wie etwa Schulen, Krankenhäuser, Wirtschaft, und Seniorenbetreuung.

Nur eine Kommission, deren Mitglieder keine früheren Entscheidungen rechtfertigen oder verteidigen müssen und über möglichst unterschiedliche und vielfältige Expertise verfügen, kann fernab von Gruppendenken zu zukunftsweisend Erkenntnissen kommen.

Fragen an die Kommission in spe

Die Zusammensetzung einer Kommission ist eine Sache, die konkrete Aufgabenstellung eine andere. Was genau soll denn aufgearbeitet werden? Eine Pandemiekrise ist nicht vergleichbar mit einem Flugzeugabsturz, dessen Ursachen danach minutiös rekonstruiert werden. Ein Pandemieverlauf in einem Land kann nicht in sich selbst beurteilt werden. Was sich aber als weitestgehend unstrittig herauskristallisiert hat, ist, dass die Minimierung der Anzahl an Covid-19-Verstorbenen ein zentrales Kriterium bei den Entscheidungen während der Pandemie war. Indes gilt auch dabei, dass es im Nachhinein keine Messlatte dafür gibt, ob diese Entscheidungen erfolgreich waren oder nicht. Die Frage, "Was wäre gewesen, wenn . . ." ist einer wissenschaftlich fundierten Antwort eher nicht zugänglich.

Allerdings gibt es Unterschiede zwischen Ländern, die erheblich sind und aus denen daher wertvolle Erkenntnisse gewonnen werden können. Tschechien etwa ist einer jener Staaten innerhalb der EU, die die meisten Covid-19-Verstorbenen pro Million Einwohner zu beklagen haben. Die Niederlande wiederum befinden sich am anderen Ende einer solchen Reihung. Österreich und Schweden liegen nahe beisammen und etwas besser als der EU-Durchschnitt. So weit, so gut, könnte man aus österreichischer Sicht bemerken.

Indes, und dies könnte eine konkrete Frage an die Kommission sein: Was ist in Österreich ab September 2020 schiefgelaufen, dass ab dann deutlich mehr Menschen verstorben sind als in den Niederlanden, in Schweden und in der EU?

Mehr Impfungen und Tests, aber auch mehr Tote

Eine andere Frage ergibt sich zum Thema Impfung. Bis Ende Oktober 2021 war der Anteil der Bevölkerung, der zumindest einmal geimpft war, in Österreich niedriger als in den Niederlanden, in Schweden und in der EU. Im November 2021 legten indes die Österreicherinnen und Österreicher einen rasanten Impfspurt hin, der dazu führte, dass es hierzulande ab Dezember 2021 prozentuell mehr mindestens einmal Geimpfte gab als in den genannten Ländern und dies seitdem auch so geblieben ist.

 

Was - so eine weitere Frage an die Kommission - führte zu diesem fulminanten Spurt? Und wieso wurde dies nicht entsprechend gewürdigt? Und noch eine weitere Frage drängt sich auf: Wieso verstarben in Österreich ab Dezember 2021 mehr Menschen als in den Niederlanden, obwohl in den Niederlanden ab Dezember 2021 weniger Menschen geimpft waren?

Ab Februar 2021 war Österreich Weltmeister im Testen. Ab dann hat uns diese Position kein anderes Land mehr streitig gemacht. Im Durchschnitt hat sich jede Österreicherin, jeder Österreicher - Babys und Kleinkinder mitgerechnet - bisher 21 Mal testen lassen. In Tschechien waren es gerade einmal fünf Tests, in den Niederlanden und Schweden überhaupt nur zwei. Testen kostet uns nicht gerade wenig. Österreich hat sich den Weltmeistertitel im Testen mehr als 4 Milliarden Euro kosten lassen.

Was - so die Frage an die Kommission - hat die Entscheidungsträgerinnen und -träger und ihre Beraterinnen und Berater dazu bewogen, an diesem Testregime unbeirrt festzuhalten? Welchen Nutzen hat es im Vergleich etwa mit den Niederlanden und Schweden gebracht? Welche effektivere Alternativen, 4 Milliarden Euro auszugeben, hätte es gegeben, und was hat dazu geführt, dass diese nicht gewählt wurden?

Der größte Zankapfel in der Glaubensspaltung war und ist indes die Strenge der Maßnahmen. "Our World in Data" der University of Oxford hat zu diesem heiklen Thema den "Stringency Index" erarbeitet, ein zusammengesetztes Maß, das auf neun Reaktionsindikatoren basiert, darunter Schulschließungen, Arbeitsplatzschließungen, und Reiseverbote, skaliert auf einen Wert von 0 bis 100 (100 = am strengsten).

Strengere Maßnahmen und stärkerer BIP-Absturz

Vergleicht man Österreich mit Schweden und den Niederlanden, die beide weniger an Covid-19-Verstorbene pro Million Einwohner zu beklagen haben, zeigen sich doch einigermaßen rätselhafte Unterschiede. Wie - so eine weitere Frage an eine Kommission in spe - ist erklärbar, dass die Maßnahmen in Österreich fast durchgehend strenger waren als in den Niederlanden und insbesondere Schweden und trotzdem mehr Menschen pro Million Einwohner an Covid-19 verstorben sind als in diesen beiden Ländern? Welche Erkenntnisse haben dazu geführt, dass ab März 2022 Österreich bezüglich Strenge der Maßnahmen ziemlich allein blieb und trotzdem ab März 2022 mehr Menschen in Österreich verstarben als in den Niederlanden?

Ob die Strenge der Maßnahmen die intendierte Wirkung gezeigt hat, sollte eine Kommission analysieren. Gesichert ist jedoch, dass Maßnahmen, die das Miteinander in einer Gesellschaft massiv beeinträchtigen, auch unerwünschte Wirkungen haben. "Über Wirkung und unerwünschte Nebenwirkungen informieren Arzt und Apotheker", heißt es bei Medikamenten. So eine Information gibt es bezüglich Strenge der Maßnahmen nicht. Aber ein Indikator, das Bruttoinlandsprodukt, gibt einen zumindest groben Hinweis. Das BIP gibt den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen an, die während eines Jahres innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft als Endprodukte hergestellt wurden. Welche Erklärung gibt es dafür, dass Österreich bezüglich BIP-Veränderung im Jahr 2020 gegenüber 2019 deutlich schlechter abschnitt als Schweden, die Niederlande, Tschechien und die EU insgesamt?

 

Wohl nicht auf alle diese auftauchenden Fragen wird eine Kommission Antworten finden. Dazu sind eine Pandemie und die Reaktionen darauf zu komplexe Phänomene. Aber den Versuch einer Aufarbeitung zu wagen, ist es allemal wert. Und vielleicht trägt es ja doch dazu bei, aus einer Zeit der Glaubensspaltung, wie wir sie seit 2020 erleben, wieder ins Zeitalter der Aufklärung und zu Karl Poppers kritischem Rationalismus zurückzufinden - vor allem, aber nicht nur in Österreich.