Das Jahr 2022 war wie die beiden vorhergehenden "Corona-Jahre" in der öffentlichen Wahrnehmung ein besonders ereignisreiches Jahr. Der Ukraine-Krieg und insbesondere auch die damit verbundenen Folgen (etwa im Energiebereich) überschatteten alle anderen Themen in den Nachrichten. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in einer Rede am 27. Februar vor dem Deutschen Bundestag von einer "Zeitenwende" – ein Begriff, der von der Gesellschaft für Deutsche Sprache (GfdS) zum Wort des Jahres erklärt und auch in vielen Jahresrückblicken aufgegriffen wurde.

Ladislaus Ludescher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Lehrbeauftragter am Historischen Institut der Universität Mannheim.
- © privatEine Reihe ignorierter und vernachlässigter Krisen und Katastrophen
Im Jahr 2022 gab es aber auch eine Reihe von Krisen und Katastrophen im Globalen Süden, die in den Nachrichten nicht oder kaum berücksichtigt wurden (Abb. 1). Weder die eskalierende Gewalt und humanitäre Krise in Haiti, einem Land, das einem UN-Jahresrückblick zufolge am Rande des Abgrunds steht, noch die politische Krise und der landesweite Notstand in Peru oder der Militärputsch in Burkina Faso fanden große Beachtung. Die Erklärung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass die Zahl der Malariatoten im Vorjahr bei 619.000 lag, wurde genauso randständig wahrgenommen wie die "Jahrhundertflut" in Pakistan, die 1.700 Menschenleben forderte und ca. 33 Millionen Personen obdachlos machte. Der Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray, wo seit Ende 2020 mittlerweile mehrere Hunderttausend Menschen starben und mindestens 2 Millionen Menschen vertrieben wurden, stand ebenfalls weit am Rand der Berichterstattung und damit auch des kollektiven Bewusstseins. Zu den medial am stärksten vernachlässigten, sich täglich ereignenden, Katastrophen gehört nicht zuletzt "das größte lösbare Problem der Welt". So bezeichnet das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) den globalen Hunger, da sowohl die Ressourcen als auch die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und vergleichsweise nur geringe finanzielle Mittel notwendig wären, um dieses Problem zu lösen. Laut Welternährungsbericht der UN stieg die Zahl der Hungernden auf etwa 828 Millionen Menschen, was aber medial kaum thematisiert wurde. In der deutschen "Tagesschau" beispielsweise wurde im Jahr 2022 über die britische Königsfamilie umfangreicher berichtet als über den globalen Hunger und über den Sport mehr als über den gesamten Globalen Süden.
Viele blinde Flecken
Eine Untersuchung an der Goethe-Universität Frankfurt am Main hat eine US-amerikanische und zwölf deutschsprachige Jahresrückblicke ausgewertet, darunter auch diejenigen des Magazins "profil" sowie der "Kronen Zeitung". In allen Medien zeigte sich dasselbe Muster der Beitragsverteilung, die eine außergewöhnlich hohe Dominanz des Globalen Nordens dokumentiert (Abb. 2). Der Anteil der geografischen Orientierung der Beiträge am Globalen Norden lag im Durchschnitt bei 88,8 Prozent, d.h. auf den Globalen Süden entfielen durchschnittlich lediglich 11,2 Prozent der zur Verfügung stehenden Seiten bzw. Sendezeit. Vor dem Hintergrund, dass ca. 85 Prozent der Weltbevölkerung in Ländern des Globalen Südens leben, ergibt sich damit ein Beitragsschema mit einem umgekehrt negativen Verhältnis. Pointiert gesagt: 15 Prozent der Weltbevölkerung genießen mehr als 85 Prozent der medialen Aufmerksamkeit, während 85 Prozent der Weltbevölkerung weniger als 15 Prozent der medialen Wahrnehmung erhalten.
Dramatische Ereignisse, die sich im Globalen Süden ereigneten, wurden in den Jahresrückblicken kaum aufgegriffen. Paradox erscheint es, wenn im deutschen "stern"-Sonderheft zum Jahresende in einer Kolumne von der "Jahrhundertflut in Pakistan" die Rede ist, sich die Publikation aber mit keinem einzigen Beitrag diesem Thema widmet (zum Vergleich: der Bericht über den öffentlich ausgetragenen Rechtsstreit zwischen den Hollywoodstars Johnny Depp und Amber Heard ist vier Seiten lang).
Die Gesamtbilanz ist erschreckend: In keinem einzigen der untersuchten Medien gab es einen Beitrag, der sich dezidiert mit der Situation in Tigray oder dem Hungerthema beschäftigte! Es ist außerdem festzuhalten, dass der Globale Süden in der Regel in den Medien nicht nur kaum thematisiert wird, sondern auch, dass wenn Beiträge erscheinen, diese fast ausschließlich über negative Ereignisse berichten. So lässt sich zusammenfassen: Es wird über den Globalen Süden sehr wenig berichtet und wenn über ihn berichtet wird, dann in der Regel negativ. Das Fehlen von positiven Beispielen verringert aber die Wahrnehmung des Globalen Südens im sogenannten Westen auf negativ gefärbte monoperspektivische Erzählungen.