Zum Hauptinhalt springen

Wirtschaft 2.0: Märkte designen

Von Stefan Schleicher

Gastkommentare
Stefan Schleicher ist Professor am Wegener Center für Klima und globalen Wandel an der Karl-Franzens-Universität Graz.

Wir sind alle Teil jenes Marktes, der das Etikett "Attention Economy" trägt.


Spätestens als die Haushalte von der Verdoppelung oder gar Verdreifachung ihres Preises für Elektrizität erfuhren, brachen die argumentativen Mauern mit dem Mantra von Merit Order zusammen. Hinter diesem Code verbirgt sich ein Marktdesign, bei dem das teuerste Kraftwerk den Preis für alle Anbieter auf dem europäischen Markt für Elektrizität bestimmt.

Es erfordert aber keine besondere wirtschaftswissenschaftliche Kompetenz, um zu fragen, warum solche Preissprünge - möglicherweise ausgelöst durch ein fernes Gaskraftwerk in Deutschland -akzeptiert werden sollen, wenn die bezogene Elektrizität bis zu 100 Prozent aus kostengünstiger heimischer erneuerbarer Energie stammt. Spätestens mit dem ersten Gerichtsurteil wurde diese von den Spitzen der Elektrizitätswirtschaft mit dem Echo aus den Etagen der Politik vorgetragene Abwehrstrategie, dass hier eben die Realität der Märkte zu akzeptieren wäre, infrage gestellt.

Märkte sind nicht nur immer schwieriger zur verstehen, sondern auch nicht immer leicht zu entdecken. Beispielsweise sind wir praktisch alle Teil jenes Marktes, der durch die sozialen Medien entstanden ist und der die Etikette Attention Economy trägt. Auf diesem Markt wird ein ganz neues Gut gehandelt: unsere Aufmerksamkeit. Wegen unserer beschränkten Zeit ist Aufmerksamkeit genauso ein knappes Gut geworden wie Erdgas oder Schweinebäuche, für die es etablierte Märkte gibt. Die digitalen IT-Riesen Google, Apple, Facebook, Amazon oder Microsoft sind vor allem dadurch reich geworden, dass sie unsere Aufmerksamkeit an daran interessierte Unternehmen weiterverkaufen, ohne dass wir oft davon wissen.

Der prominente MIT-Ökonom Daron Acemoğlu ließ nun aufhorchen mit der Aussage, die Marktmacht dieser IT-Giganten kann nur durch deren teilweise Zerschlagung gebrochen werden. Beispielsweise könnte Youtube von Google abgespalten werden und Whatsapp von Facebook. Ähnlich radikale Schritte wären für den europäischen Markt für Elektrizität zu setzen. Das derzeitige Design dieses Marktes reflektiert ein vor mehr als drei Jahrzehnten populäres Mindset, dem inzwischen radikale Innovationen ein Ablaufdatum gesetzt haben. Nicht mehr einzelne Energieträger, sondern die damit verbundenen Dienstleistungen für Wärme, Maschinen, Mobilität, Elektronik und Beleuchtung sollten in Märkten abgebildet werden, die zusätzlich noch eine sehr lokale geografische Dimension haben.

Wie das geschehen kann, zeigen die in der Schweiz als Energie-Hubs bezeichneten neuen Energiesysteme. "Economists tend to fall in love with their models." Diese oft wegen ihrer Mehrdeutigkeit mit einem hintergründigen Lächeln in der ökonomischen Zunft kolportierte Selbstreflexion ist auch eine Diagnose über das Verständnis oder besser Unverständnis von Märkten im wirtschaftswissenschaftlichen Mainstream. Dessen Scheitern dokumentieren die Zustände auf den Märkten für Elektrizität und Aufmerksamkeit. Die sicherste Antwort darauf ist nicht eine neue simple Empfehlung, wie die abgelaufene von den magischen Marktkräften, sondern eine intensive Auseinandersetzung über ein Re-Design dieser und vieler anderer Märkte.

So eine Wirtschaft: Die Wirtschaftskolumne der "Wiener Zeitung". Vier Expertinnen und Experten schreiben jeden Freitag über das Abenteuer Wirtschaft.