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Wanderarbeiter und Geisterstädte

Von Henk Grootveld

Gastkommentare
Henk Grootveld ist Head of Trends Investing bei Lombard Odier Investment Managers (LOIM).
© LOIM

Vier große Problemfelder, die Chinas Führung beheben muss.


China will bis 2035 ein "mäßig entwickeltes Land" werden, mit einer Verdopplung des Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommens auf etwa 20.000 US-Dollar, wie in Chinas langfristigem Entwicklungsziel für 2035 dargelegt. Um dieses Ziel zu erreichen, muss China die sogenannte mittlere Einkommensfalle vermeiden. Die Führung in Peking kann sich dabei jedoch nicht länger auf eine junge oder wachsende Erwerbsbevölkerung verlassen. Im Gegenteil, China steht ein demografischer Umbruch bevor.

China ist nicht das erste Land, das den Ehrgeiz hat, ein Land mit hohem Einkommen zu werden. Viele haben es versucht, und nur wenige haben es geschafft. Mehrere lateinamerikanische Volkswirtschaften haben es nicht geschafft, ein hohes Einkommensniveau zu erreichen, obwohl sie vor vielen Jahrzehnten den Status eines Landes mit mittlerem Einkommen erreicht haben.

Vier wichtige Veränderungen muss die chinesische Wirtschaftspolitik umsetzen, um die Fehler anderer Länder nicht zu wiederholen, den demografischen Wandel zu bewältigen und dennoch den Sprung zu einem Land mit hohem Einkommen zu schaffen. Einige davon sind bereits im Gange, andere befinden sich noch im Stadium des Reißbretts.

Kampf den Geisterstädten

Die chinesische Wirtschaft muss weniger von Immobilien abhängig werden. Angetrieben durch die starke Verstädterung war die Immobilienentwicklung in den vergangenen Jahrzehnten eine wichtige Triebfeder des Wirtschaftswachstums. Eine schrumpfende und alternde Bevölkerung braucht keine großen Wohnblocks mit Zwei-Schlafzimmer-Eigentumswohnungen in neuen (Geister-)
Städten, die meist zu Spekulationszwecken gekauft werden. Stattdessen sollte der Schwerpunkt darauf liegen, weniger zu bauen und mehr Altenheime und andere Gesundheitseinrichtungen zu errichten. Präsident Xi Jinping sagte auf dem 19. Parteitag im Jahr 2017, dass "Häuser zum Wohnen da sind, nicht zur Spekulation", was zu einer Verschärfung der Wohnungsbaumaßnahmen und -genehmigungen in ganz China führte. Die während der Corona-Pandemie verhängten Abriegelungen haben dem Immobiliensektor einen weiteren Schlag versetzt, woraufhin die Regierung erneut eingreifen musste.

Anhebung des Rentenalters

Eine Erhöhung der steuerfreien Anlagemöglichkeiten für Bürger in individuellen beitragsorientierten Systemen würde die Nachfrage nach Immobilien in Privatbesitz beruhigen. Außerdem wäre es angesichts der gestiegenen Lebenserwartung sinnvoll, das Renteneintrittsalter von 55 bis 60 Jahren bei Männern und 50 bis 55 Jahren bei Frauen anzuheben.

Deregulierung des Gesundheitswesens

Eine weitere Lockerung der Vorschriften und die ausschließliche Beteiligung des chinesischen Staates am Gesundheitssektor würden die notwendigen Investitionen in Gesundheitsdienste und -einrichtungen erhöhen. Die ersten Schritte wurden bereits unternommen. Die Führung in Peking hat auf der Grundlage der Lehren aus der Pandemie damit begonnen, einige Teile des Gesundheitssektors zu deregulieren und Online-Apotheken und andere Online-Gesundheitsdienste durch private chinesische Unternehmen zuzulassen.

Bekämpfung des Wanderarbeiterproblems

Der Staat sollte darüber nachdenken, das diskriminierende chinesische Sozialsystem, das seine Wurzeln in den Mao-Jahren hat, zu überarbeiten. Eine Möglichkeit wäre die Einführung einer grundlegenden Arbeitslosenversicherung für alle Bürger, da diese derzeit von dem Unternehmen, für das man arbeitet, und der Region, in der man lebt, abhängig ist.

Außerdem könnte die Aufhebung des sogenannten "Hukou"-Systems, das zwischen offiziellen Städtern und Landbewohnern oder chinesischen Wanderarbeitern unterscheidet, große Vorteile bringen. Obwohl inzwischen mehr als die Hälfte der chinesischen Bevölkerung in Städten lebt, haben nur 35 Prozent der Stadtbewohner einen städtischen "Hukou", der für den Zugang zum Sozialsystem erforderlich ist. "Hukou" ist ein System der offiziellen Haushaltsregistrierung.

Schätzungen zufolge haben mindestens 250 Millionen Wanderarbeiter keinen Zugang zu Sozialleistungen, sei es für die Ausbildung ihrer Kinder oder für medizinische Versorgung. Mit dem Konzept des "gemeinsamen Wohlstands", das in der ersten Amtszeit von Präsident Xi wieder eingeführt wurde, versucht die chinesische Führung eindeutig, einkommensschwache Gruppen zu unterstützen und Gerechtigkeit zu fördern, während sie gleichzeitig die regionale Entwicklung ausgewogener gestaltet. Dazu gehört auch ein neuer Urbanisierungsplan mit einem leichteren Zugang zu "Hukou", der jedoch nur langsam umgesetzt wird.

Die Kombination eines neuen und gut finanzierten Rentensystems mit integrativeren Sozialversicherungssystemen könnte möglicherweise die großen privaten Ersparnisse in China freisetzen, was den Übergang zu einer stärker konsumorientierten und weniger auf die Produktion ausgerichteten Wirtschaft fördern würde. Es sind auch einige politische Faktoren im Spiel, die China davon abhalten könnten, ein Land mit hohem Einkommen zu werden.