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Europäische Sicherheit auf Knopfdruck

Von Robert Schütt

Gastkommentare
Robert Schütt lehrt Geopolitik und Transatlantische Beziehungen an der Diplomatischen Akademie Wien. Zuvor war er mehr als ein Jahrzehnt lang im österreichischen Verteidigungsministerium tätig.
© Ouriel Morgensztern

Wer sich auf Atomwaffen als Abschreckung verlässt, wird einen konventionellen Preis zahlen.


Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst der nuklearen Abschreckung. Nein, hier geht es um keine marxistische Kritik von Atomwaffen. Auch nicht um einen naiven Pazifismus, vor dem der Friedensforscher Werner Wintersteiner am 24. Februar an dieser Stelle ganz richtig gewarnt hat. Sondern um guten alten Realismus in den internationalen Beziehungen: Wer schreckt eigentlich wen wann wie warum und vor was eigentlich wirklich ab?

Gleich vorweg die gute Nachricht, vor allem für all jene in der EU, in der Nato sowie in Europa, die sich angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine eine aktualisierte Politik der strategischen Abschreckung gegenüber Moskau (und Peking) wünschen: Sowohl in den hiezu relevanten Wissenschaften als auch in der Praxis der internationalen Sicherheitspolitik, gibt es einen relativ breiten Konsens darüber, dass die ungeheuerliche Zerstörungskraft nuklearer Waffen, wenn man sie besitzt, eine abschreckende Wirkung dagegen hat, militärisch im großen Stil angegriffen zu werden.

Freilich steckt der Teufel, wie immer bei Fragen nationaler Interessen ersten Ranges, im Detail. Denn was heißt das schon in realiter? Erst einmal nicht mehr und nicht weniger, als dass man einander gegenseitig nicht existenziell auslöscht. Keine Seite käme im Sinne des "Atompatts" mit einem Erstschlag durch. Wenn, dann würden alle sterben. Und zwar so richtig. Alternativ kann man sich unterm Tisch verstecken.

Nun zur weniger guten Feststellung. Für quasi alle anderen Fälle, die nicht unmittelbar etwas damit zu tun haben, mittels der rund 12.700 weltweit verfügbaren atomaren Sprengköpfe (etwa 90 Prozent in den Händen der USA und Russlands) die gesamte Weltbevölkerung auslöschen zu können, sind Atomwaffen für nicht viel zu gebrauchen. Wie es der deutsch-amerikanische Politologe Hans J. Morgenthau einmal so schön auf den Punkt gebracht hat: Das ungeheure Anwachsen militärischer Macht geht Hand in Hand mit ihrer praktischen Entwertung.

Gefahr begrenzter Kriege

Und wenn wir hier schon bei Morgenthau sind, einem stets aktueller Kritiker des Vietnam-Krieges, dann können wir auch den seinerzeitigen US-Verteidigungsminister Robert McNamara ins Spiel bringen, der einst eingestand: Atomwaffen sind nutzlos - außer, dass sie die Gegenseite von ihrer Anwendung abschrecken. Oder man nehme seinen damaligen Kollegen im Außenamt, Dean Rusk, der es noch realistischer formulierte: Tatsache ist, dass sich atomare Sprengköpfe nicht in verwertbaren politischen Einfluss umsetzen lassen.

Das heißt, zumindest nicht so leicht, wie sich das die sogenannten Abschreckungsoptimisten, allen voran der umstrittene Politikwissenschafter John J. Mearsheimer, vorstellen. Fast schon legendär, aber nichtsdestotrotz gemeingefährlich, ist sein analytisches Fazit, dass der Erwerb von Atomwaffen durch den Iran mehr Stabilität für den Nahen Osten brächte. Wollte er doch im US-Fernsehen tatsächlich einmal einer sichtlich baffen Moderatorin (und uns allen) glaubhaft machen: "Atomwaffen sind Waffen des Friedens."

Nur stimmt das halt nicht, ist nicht einmal die halbe Wahrheit und nicht nur im Sinne einer politischen Ethik höchst fragwürdig, sondern auch empirisch falsch. Kontern nämlich die Abschreckungsrealisten, dass es sich in der Realität anders verhält. Aktuelle Forschungsergebnisse betreffend die heutigen neun Nuklearstaaten USA, Russland, China, Frankreich, Großbritannien, Israel, Pakistan, Indien, Nordkorea beziehungsweise zehn, wenn man das ehemals atomar bewaffnete Südafrika (seit 1991 im Atomwaffensperrvertrag) dazuzählt, zeigen zweierlei:

Einerseits sinkt, wenn nicht-nukleare Staaten den Weg der atomaren Aufrüstung bestreiten, ihr Risiko, von anderen nicht-nuklearen Staaten militärisch angegriffen beziehungsweise in einen irgendwie anders gearteten Krieg hineingezogen zu werden. Dass selbst das nicht ausnahmslos gilt, wie nichts im Bereich des Politischen (außer dass eben alles möglich ist), zeigt der Falkland-Krieg.

Andererseits - und das ist schon besonders bemerkenswert - gibt es diese zumindest leichte Tendenz der Abschreckung genau nicht unter Nuklearmächten. Und was erst einmal paradox erscheinen muss, hat auch einen entsprechenden Namen: Stabilitäts-Instabilitäts-Paradoxon, entwickelt Mitte der 1950er Jahre vom britischen Militärtheoretiker Sir Basil Liddell Hart: So ziemlich in dem Maße, in dem Atomwaffen das Risiko eines großen (strategischen) Krieges verringern, steigt die Gefahr eines begrenzten (konventionellen) Krieges. Je stabiler die nukleare Abschreckung auf strategischer Ebene, desto möglicher wird eine sub-strategische Auseinandersetzung, manchmal klein, manchmal groß, mit militärischen Mitteln, weil man eben einander gegenseitig vertrauen kann, dass Kämpfe begrenzt bleiben. Beispiele sind der indisch-pakistanische Konflikt um Kaschmir sowie die Streitereien zwischen China und Indien im Himalaya-Grenzkonflikt.

Ein gefährlicher Bluff

Zweifellos ist es richtig und wichtig, in Brüssel (und in den Hauptstädten Europas) über strategische Fragen der europäischen Abschreckungsarchitektur nachzudenken. Die einen fordern einen französischen Nuklear-Schirm über Europa, andere wollen lediglich eine Ergänzung zum amerikanischen, dritte wiederum fordern ein klares Schutzversprechen aus Washington. Und was unbedingt dazugehört, egal wohin man strategisch oder politisch tendiert, ist, heute mehr denn je, für zwingende Abrüstungsverpflichtungen einzutreten.

Morgenthau hat es so trefflich formuliert: "Die Streitkräfte sind Instrument, nicht Herr der Außenpolitik." Viele ihrer Mittel, wie strategische Atomwaffen, sind im tiefen Sumpf täglicher Konflikte nicht viel mehr als ein gefährlicher Bluff. Weil sie die Grenzen der eigenen Macht und Interessen vernebeln und, wenn man nicht höllisch aufpasst, das relative Element rationaler Außenpolitik auf dem Altar absoluter Gewissheiten, die es in der internationalen Politik nicht gibt, opfern.