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Anregungen für eine europäische Geostrategie

Von Nikolaus Lehner

Gastkommentare
Nikolaus Lehner war vormals 45 Jahre lang als Rechtsanwalt tätig und ist seither Kurator und Kommentator.
© Gregor Schweinester

Angesichts der aktuellen Weltlage sollten die EU-Staaten endlich aufwachen und die Zeichen der Zeit erkennen.


Die gegenwärtige politische Weltlage offenbart einen offensichtlichen Umbruch, der von uns Zeitgenossen nur schwer wahrnehmbar ist, aber dennoch Anlass gibt, sich mit den Auswirkungen auf Europa - und damit ist das westlich geprägte, liberale Europa gemeint - zu befassen.

Die stärkste Strömung liegt im Bestreben Chinas, die USA als dominante Weltmacht abzulösen. Dies wird Europa unter großen Druck bringen, weshalb die EU-Staaten endlich aufwachen und die Zeichen der Zeit erkennen sollten. Schon allein deshalb ist es dringend notwendig, dass sie sowie die übrigen in Frage kommenden Staaten wie die Schweiz und Norwegen sowie die EU-Beitrittskandidaten des Westbalkans dem Aggressor Wladimir Putin solidarisch und geschlossen entgegenstellen.

Dazu kommt - und dies erschwert die weitere Vorgangsweise -, dass die schwelenden Krisen innerhalb der EU umso schwerer entschärft werden können, je weiter sich der Krieg im Osten ausbreitet. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hielt es kaum jemand für realistisch, dass es überhaupt noch zu einer konventionellen kriegerischen Auseinandersetzung innerhalb Europas kommen könnte. Der Angriff auf die Ukraine hat die EU-Staaten unvorbereitet getroffen und noch stärker von der Verteidigungsbereitschaft und vom Verteidigungswillen der USA abhängig gemacht.

Europa - konkret die EU - war und ist noch immer mit sich und den Auseinandersetzungen innerhalb der Mitgliedstaaten beschäftigt, wie schon allein die unentschlossene Diskussion zum Thema Rechtsstaatlichkeit leider nur zu deutlich zeigt. Auch die komplexe Prozedur bei der Aufnahme neuer Mitglieder und die Steuerung der Fliehkräfte - vormals Großbritannien, nunmehr Ungarn und Polen, das schon mehr zu den USA als zu einem Verbleib in der EU tendiert - gilt es in den Griff zu bekommen.

Teile Afrikas und Indien sind für den Westen verloren

Bei realistischer Betrachtung der Geopolitik müssen wir feststellen, dass ein Viertel der Mitglieder der UNO sich dagegen verwehrt hat, einer Forderung auf Rückzug des Aggressors Putin zuzustimmen. Die Linie des Westens unter Berufung auf seine Werte ist diesen Staaten (und übrigens auch mir) zu indifferent - wer bestimmt denn heute, welche Werte das eigentlich sind? Diese Forderung ist leicht als Heuchelei oder sogar Verschleierung der eigenen Interessen zu empfinden - ist ihnen das zu verübeln? Bedauerlicherweise liest man über diese komplexe Thematik in den westlichen Medien höchstens als Randnotiz.

Weltweit werden die USA wegen ihrer offensiven Allmacht negativ beurteilt, aktuell wegen ihrer großen ökonomischen Erfolge durch die Waffenlieferungen in die Ukraine. Bis zur Zeitenwende 1989 gab es lediglich zwei Blöcke und die restlichen Staaten blieben, sofern sie nicht im Fokus der Supermächte lagen und zum Schauplatz von Stellvertreterkriegen wurden, mehr oder weniger unbeobachtet und unbeachtet.

Vieles hat sich jedoch in der Zwischenzeit unvorhergesehen rasch weiterentwickelt, ich denke vor allem an die vormals von einigen europäischen Staaten schamlos ausgebeuteten Länder in Afrika, für die es daher naheliegend ist, sich nunmehr von chinesischen und russischen Versprechungen allzu leicht betören zu lassen. Einige unter ihnen, wie das ehemals französische Mali, enthielten sich nicht nur bei der Abstimmung in der UNO, sondern zogen sogar offen die russische Karte. Diese Staaten und dazu vor allem noch das immer mächtiger werdende Indien sind nach jetzigem Stand für den Westen verloren. So zeigten sie auch für die bedauernswerten Uiguren in China kein Interesse, weil sie, als sie Hilfe von Europa bei der Pandemie benötigten, diese nach ihren Vorstellungen nicht (ausreichend) erhalten haben.

Warum sollte nicht offen darüber diskutiert werden, welches Recht den USA heute noch zukommt, vor Chinas Haustür eine vorgelagerte Insel, nämlich Taiwan, unter ihren Schutzschirm zu stellen, noch dazu, wenn man an die Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR denkt, als diese in Kuba einen Waffenstützpunkt errichten wollte?

Faktum ist auch, dass der von Europa mit Recht argwöhnisch beobachtete Präsident Trump mit seiner jahrelangen Forderung, die Staaten der EU seien bei der Verteidigungsbereitschaft säumig, und vor allem Deutschland käme seinen Verpflichtungen nicht nach, Recht behalten sollte. Daher sind die permanenten Angriffe gegen die jeweilige österreichische Regierung insofern nicht nachvollziehbar, weil auch sie das Budget für die Verteidigung immer schal gehalten hat. Damit waren wir nicht allein, im Ergebnis war all diesen Staaten der Wohlstand wichtiger.

Kein Krisenmanagement, keine Führungspersönlichkeit

Die Krise, in der wir leben, wird aus mehreren Gründen verschärft, zum einen, weil es kein europäisches Krisenmanagement gibt, zum anderen, weil vor allem eine Führungspersönlichkeit vom Kaliber einer Angela Merkel fehlt; weder Olaf Scholz noch Emmanuel Macron können sich mit ihr messen. Dazu kommen in jüngster Zeit die offene Parteinahme Chinas für Russland und noch eher diskret die ausgebauten Beziehungen von Russland zu Indien. Ein warnendes Signal sind die vielen nominell neutralen Staaten, die allerdings mehrheitlich alle schon einmal von der USA enttäuscht wurden und daher zumindest zum Teil tendenziell Russland und China näher stehen als den USA und Europa.

Europa bewegt sich wie beim Mühle-Spiel schwerfällig, schlingernd und diskutierend. Abgesehen vom fragilen Konstrukt der EU zeigt sich die Problematik des atlantischen Bündnisses, weil durch den Druck Chinas auf die USA deren Bevölkerung in Erinnerung gerufen wird, wie die Japaner - damals völlig überraschend - den Flottenstützpunkt Pearl Harbour angriffen. Daher werden sich die USA längerfristig aus Europa zurückziehen, um eine solche negative Überraschung aus China in der Zukunft zu vermeiden.

Neben dem fragilen Konstrukt der EU mit permanent wechselnden Allianzen (Visegrad-Staaten, "Frugale Vier" und ähnliches) sehe ich auch das transatlantische Bündnis mit einem nach allen Seiten offenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in einem Schwebezustand. Die Konstatierung, der galoppierende Realitätsverlust nehme teils schon psychotische Qualitäten nach dem Muster Putins an, liegt nicht fern.

EU-Sanktionen stärken Putins Regime im Inneren

Die Hoffnung, die permanente Verabschiedung neuer Sanktionspakete würde dazu führen, dass wenigstens eines davon endlich nachweisbar greift, hat sich bisher nicht erfüllt, weil sich viele Staaten des Westens damit verteidigen, dass sie diesen Auftrag nicht erfüllen könnten. Ein Beweis dafür ist Österreich, wo RBI, OMV und andere nach wie vor mit großem Erfolg in Russland wirtschaftlich tätig sind. Putin hat im September 2022 ein Gesetz erlassen, wonach er als Präsident jeder Auflösung einer Geschäftsbeziehung zustimmen muss. Alle diese Unternehmen hätten sich mit Ausbruch des Ukraine-Krieges im Februar 2022 von ihren Geschäften in Russland zurückziehen müssen.

Bei der Beschlussfassung über die EU-Sanktionen blieb unbedacht, dass einzelne Maßnahmen, wenn sie tatsächlich vollzogen werden, massiv wirken, allerdings stärkt das gleichzeitig das Regime Putins im Inneren. Damit wird Widerstand erzeugt nach der Devise "Wir Russen gegen die übrige Welt", Widerstand insbesondere gegen die Nato mit ihrer historischen Belastung durch die Luftangriffe gegen Serbien im Jahr 1990, und gegen innere Gegner wie Alexej Nawalny, soweit sie nicht schon ermordet wurden.

Die diversen russischen Notstandsgesetze erleichtern die Unterdrückung oppositioneller Kräfte, die Verknappung des Marktes bei der Versorgung führt zu einer stärkeren Kontrolle der Wirtschaft, die Bevölkerung wird noch mehr Putin-hörig, die perfiden Abschreckungsmethoden schüchtern die Randregionen Georgien, Moldau und andere total ein. Durch die Sanktionen wurden die von der EU verfolgten Oligarchen mit Ausnahme von Michail Chodorkowski noch abhängiger vom Kreml.

Solidaritätsbekundungen ersetzen keine Waffen

Putin gelang es sogar, die unerwarteten anfänglichen militärischen Niederlagen in der Ukraine zu bewältigen, weil er mit der ständigen Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg (1941 bis 1945) erreicht, dass die Bevölkerung ihn (fast) schon verehrt. Umfangreiche allseitige Solidaritätsbekundungen seitens des Westens ersetzen niemals die zugesagten, aber bisher nur zum Teil erfüllten Waffenlieferungen. Im Gegensatz zur jetzigen militärischen Unterstützung der Ukraine durch die USA sammelten diese für den Golfkrieg 1990 eine Koalition aus 35 Staaten hinter sich, für die es ein Leichtes war, den Aggressor binnen kürzester Zeit zu besiegen. Deutschland schickte damals keine Soldaten, leistete aber einen Beitrag, bedeutend höher, als er bisher der Ukraine zugekommen ist.

Aus den oben aufgezeigten Gründen ist es völlig richtig, dass die überwiegende Mehrheit der Österreicher auf die Neutralität setzt. Einzelnen Stimmen, wir wären bloß Trittbrettfahrer und bei der Nato besser aufgehoben, ist heftig zu widersprechen. Diesen Vorwurf der mangelnden Solidarität nehme ich gerne in Kauf, bevor Österreich Mitglied der Nato wird und sich damit verpflichtet, bei einem Angriff von Putin etwa auf das Baltikum militärisch aktiv zu werden. Die österreichische Neutralität wurde rechtlich an die EU-Mitgliedschaft und deren Integration im Bereich der Sicherheits- und Verteidigungspolitik angepasst. Es mangelt aber noch an den Voraussetzungen für eine glaubhafte und wirksame österreichische Neutralität, schon allein an der schon öfter avisierten stärkeren Finanzierung des österreichischen Bundesheeres.

Auf europäischer Ebene vermisse ich eine stärkere vereinheitlichte Politik. Die Zusammenführung von 26 Armeen zu einer integrierten Verteidigung ist noch ein fernes Ziel. Hier ist Artikel 42 des EU-Vertrags mit einer Sicherheits- und Verteidigungspolitik für die Mitgliederstaaten und nach Absatz 7 sogar einer eigenen Beistandsverpflichtung einzumahnen. Es ist höchste Zeit, an die Umsetzung zu gehen.