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Was gehen uns die EU-Außengrenzen an?

Von Judith Kohlenberger

Gastkommentare
Judith Kohlenberger ist Migrationsforscherin an der WU Wien und Autorin von "Das Fluchtparadox" (2022, Kremayr & Scheriau).
© Christian Lendl (www.dchr.is)

Was hinter den kürzlich aufgedeckten Rechtsbrüchen steht, ist eine sukzessive Aushöhlung der rechtsstaatlichen Strukturen Europas.


Die jüngsten Berichte über methodisch organisierte Pushbacks der kroatischen Polizei oder die (von Österreich mitfinanzierte) Gefängniseinheit im bosnischen Lager Lipa stoßen bisher auf nur moderate Empörung. Es scheint Zustimmung zu dieser Art des "Grenzschutzes" zu herrschen, zumindest resignierte Akzeptanz - oder einfach nur die insgeheime Überzeugung, dass uns Europäern das, was in Kroatien und Bosnien, auf Lesbos oder im Mittelmeer systematisch stattfindet - eine wissentlich und willentlich herbeigeführte Rechtlosigkeit -, nicht passieren kann.

Diese Grundannahme ist nicht nur falsch, sondern fatal.

Denn was hinter den kürzlich aufgedeckten Rechtsbrüchen steht, ist eine sukzessive Aushöhlung der rechtsstaatlichen Strukturen Europas, und die beginnt immer bei den schwächsten Gliedern in der Kette, bei Minderheiten und Marginalisierten. Genau das sind Geflüchtete, weil sie die Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslands, das sie nicht mehr zu schützen im Stande ist, durch Flucht zurückweisen; durch Schutzbeantragung in einem anderen Land sind sie auf die Gewährung dessen und auf die Anerkennung ihrer Rechte angewiesen. Sie haben keine politische Stimme und damit in einer Demokratie keine Macht als Teil des Volks, als Souverän.

Gerade deshalb nehmen sie die Funktion eines gesellschaftlichen Seismografen ein. Am Umgang mit ihnen zeigt sich, wie es um die Grund- und Freiheitsrechte aller bestellt ist. Von jeher bildete die Beschneidung der Grundrechte von Marginalisierten das Einfallstor, um auch die Rechte etablierter Gruppen in der Gesellschaft zu unterminieren.

Dass das, was an den EU-Außengrenzen passiert, uns in Österreich nicht zustoßen könne, ist somit eine reine Chimäre, die uns in (falscher) Sicherheit wiegt. Nicht von ungefähr zeigt sich in Ländern, in denen die Rechte von Schutzsuchenden mit Füßen getreten werden, auch eine Rechtsstaatlichkeitskrise auf anderer Ebene. In Ungarn wird neben Flüchtlingsrechten die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz beschnitten, in Polen die reproduktiven Rechte von Frauen. Es ist also in unser aller Interesse, Asylrecht hoch- und einzuhalten, selbst wenn wir (noch) auf Seite der Aufnehmenden stehen. Dass sich Letzteres allzu rasch ändern kann, verdeutlicht der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Würden Wladimir Putins Bomben nur einige hundert Kilometer weiter westlich fallen, wären wir es, die auf die Einhaltung des Rechts auf Nicht-Zurückweisung angewiesen wären.

Dieses "Non-Refoulement"-Gebot bleibt ein Kernstück der Genfer Flüchtlingskonvention. Und die hatte, als sie aus den Gräuel der beiden Weltkriege hervorging, zuallererst uns Europäer im Blick. Denn erst Jahre später wurde sie durch Zusatzprotokolle zeitlich und geografisch ausgeweitet. 1951 waren es verwundete, vertriebene, kriegs- und lagererfahrene Europäer, denen genau diese ihre Verwundung zur moralischen Richtschnur wurde, um zur historischen Einigung zu gelangen, dass niemand in ein Land zurückgewiesen werden darf, in dem ihm Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen dro hen. Hinter genau diesen historischen Konsens droht Europa nun zurückzufallen - vielleicht auch nur, um die eigene Verwundbarkeit vergessen zu machen.