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Die Waffen nieder

Von Max Haller

Gastkommentare

Warum hört man nur von Waffenlieferungen, aber nicht von Bemühungen um einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg?


Die Waffenlieferungen in die Ukraine beherrschen seit Monaten die Schlagzeilen. Angesichts des fortdauernden Krieges waren und sind sie ohne Zweifel notwendig, um die Ukraine nicht dem Aggressor Wladimir Putin auszuliefern. Die Frage ist jedoch, ob nicht daneben Bemühungen für einen Waffenstillstand ebenso dringend notwendig wären. Von solchen hört man jedoch praktisch nichts, ganz im Gegenteil. So forderte der ungarische Journalist Arpad Tota jüngst in der "Wiener Zeitung", die Waffenlieferungen an die Ukraine massiv zu verstärken, um Russland zu besiegen; erst dann werde Frieden möglich. Das Gleiche schrieb der langjährige Leiter des Brüsseler Thinktanks European Policy Centre, Daniel Gros, im "Standard".

Beide Artikel rufen geradezu Erschrecken hervor. Sie gehen von einer durchaus realistischen Einschätzung der ökonomischen und militärischen Kräfteverhältnisse der Ukraine, ihrer westlichen Verbündeten und Russlands aus. Das wirtschaftliche Potenzial der Ukraine selber könne vernachlässigt werden, aber der Westen (EU, Großbritannien und USA) sei in dieser Hinsicht Russland weit überlegen. Die Unterstützung der Ukraine durch den Westen sei jedoch noch völlig unzureichend, um der Ukraine einen Sieg gegen Russland zu ermöglichen.

Kein absehbarer Sieger

Laut Gros müsste der Westen seine Unterstützung (bis dato etwa 150 Milliarden Dollar, der Großteil davon US-Militärhilfe) verdoppeln, ja sogar verdreifachen. Russland könne ja, trotz seiner ökonomischen Schwäche, immer noch zusätzliche Ressourcen mobilisieren. Eine Aufstockung der finanziellen Unterstützung allein sei aber unzureichend. Da neue Waffensysteme auch ein hohes technisches Know-how erfordern, sei eine zeitaufwendige Einschulung der Soldaten notwendig. Mit diesen Aussagen schließen sich beide Autoren dem US-Verteidigungsminister an, der sagte, die Ukraine könne gewinnen, wenn sie die richtigen Waffen erhalte.

Die beiden Autoren haben allerdings nicht gesehen, was passieren könnte, wenn die Ukrainer Russland wirklich aus dem gesamten von ihnen besetzten Territorien hinauswerfen könnten. Noch das Geringste wäre wohl eine Intensivierung des Beschusses der gesamten Ukraine durch russische Raketen und Drohnen. Jedoch gehen praktisch alle Militärstrategen davon aus, dass ein völliger Sieg der Ukraine, aber auch Russlands, nicht absehbar ist und der Krieg sich noch lange, möglicherweise Jahre, hinziehen wird.

Was würde das bedeuten? Weitere zehntausende Kriegs- und Ziviltote, Verwüstungen von Häusern und Infrastrukturen in der ganzen Ukraine, womöglich keine Rückkehr eines großen Teils der acht Millionen aus der Ukraine Geflüchteten (ein Drittel der mehr als 90.000 Ukrainer in Österreich, großteils Frauen und Kinder, will offenbar hier bleiben), eine Verzögerung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der Ukraine um Jahre.

Angesichts dieser Aussichten erscheint es mehr als befremdlich, dass von keiner politischen Spitzenpersönlichkeit Äußerungen zu Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu hören sind. Besonders zuständig dafür wäre die EU, in der viele Länder vom Krieg direkt betroffen sind und die nicht (wie die USA) unter dem Verdacht neoimperialistischer Ambitionen steht. Aber auch Österreich als neutraler Staat, der gute Beziehungen zur Ukraine wie auch zu Russland hat (oder zumindest hatte), sollte hier aktiv werden.

Die Argumente gegen sofortige Waffenstillstandsverhandlungen sind nicht überzeugend. So heißt es, wenn man Russland die eroberten Gebiete überlasse, werde Putin Gelüste auf weitere Angriffe auf Moldawien, Estland oder andere Länder bekommen. Aber ein Waffenstillstand würde ja nicht bedeuten, dass die Ukraine Gebiete abtreten müsste. Über mögliche Bedingungen für einen Frieden wäre dann ja erst zu verhandeln. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen äußerte in einem Vortrag an der Universität Princeton, Waffenstillstandsverhandlungen kämen jetzt nicht in Frage, weil Putin dann die ganze Ukraine erobern könnte. Welcher militärische Berater ihr dies verraten hatte, sagte sie nicht. Nachdem die russische Armee bereits eine schmähliche Niederlage beim Marsch auf Kiew erlitten hat und jetzt im Kriegsgebiet in der Ostukraine auch nicht weiterkommt, erscheint dies höchst unwahrscheinlich.

Argumente, die ins Leere gehen

Ein weiteres Argument lautet, die Ukraine habe ein Recht, für ihre im Krieg verlorenen Gebiete zu kämpfen. Dies ist zweifellos richtig. Hier ist aber eine wichtige Tatsache festzuhalten: Der Krieg hat inzwischen einen ganz anderen Charakter als zu Beginn. Putins erstes Ziel war, die Regierung in Kiew durch ein Vasallenregime zu ersetzen. Dies scheiterte, und jetzt geht es um die Frage der territorialen Integrität des Staatsgebietes und nicht mehr um die Sicherung der Freiheit.

Die These, die Ukraine kämpfe stellvertretend für uns alle, für die Freiheit Europas, ist daher nicht zutreffend. Sie ist aus Sicht der politischen Ethik auch höchst fragwürdig. Wie könnten wir je von einer Nation verlangen, für uns ihre jungen Männer in Krieg und Tod zu schicken, die Verwüstung ihrer Infrastruktur hinzunehmen, Millionen Frauen und Kinder als Flüchtlinge zu verlieren? Hier stellt sich die Frage der Güterabwägung zwischen dem möglichen Verlust einiger Staatsgebiete (der im Übrigen ja keineswegs Vorleistung sein müsste) sowie Frieden und Wiederaufbau des Landes.

Ein letztes Argument lautet, mit Putin könne man nicht verhandeln, er habe sich mit Adolf Hitler auf eine Stufe gestellt. Dieses Argument gewinnt sogar an Gewicht durch die vollkommen richtige Entscheidung des Internationalen Strafgerichthofes, Putin wegen Kriegsverbrechen (Verschleppung von Kindern, weitere Punkte sollen folgen) anzuklagen. Aber Hitler hatte seine mörderischen Absichten bereits lange vor dem Zweiten Weltkrieg dem Holocaust in "Mein Kampf" sehr deutlich ausgesprochen. Putin hat in seinen historisch-politischen Elaboraten nur von der Ukraine als Geburtsland der russischen Zivilisation gesprochen, das man nicht dem Westen überlassen dürfe. Die Welche Folgen Angriffe auf Nato-Länder hätten, dürfte ihm bewusst sein.

Im Übrigen: Was wäre die Alternative zu Waffenstillstandsverhandlungen? Solange Putin an der Macht ist (und damit ist noch auf Jahre hinaus zu rechnen), muss man mit ihm oder von ihm benannten Delegierten verhandeln. Österreich könnte sich unschätzbare Verdienste erwerben, wenn es zur Aufnahme solcher Gespräche beitragen würde.