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Blauer Frühling in Berlin

Von Michael Bröning

Gastkommentare

Was grüne Milieupflege mit dem aktuellen Höhenflug von Rechtsaußen zu tun hat.


Die Berliner "Fortschrittskoalition" hat in dem Jahr ihres Bestehens einiges auf den Weg gebracht. Doch jüngst scheint sie in erster Linie damit befasst, den Fortschritt als ein Fortschreiten zu begreifen - und zwar fort von gesellschaftlichen Mehrheiten. Aktuell jedenfalls hat das Dreierbündnis aus Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten keine Mehrheit mehr hinter sich. Nur noch rund 30 Prozent der Deutschen wünschen sich eine Fortsetzung der Ampel-Koalition. Bei drei Koalitionsparteien ist das ein reichlich drastisches Einbrechen von Rückhalt.

Das Abwenden der Öffentlichkeit ist dabei nicht ausschließlich hausgemacht - Stichwort russischer Angriffskrieg und die Folgen. Doch allumfassend abstreiten lässt sich eine gewisse Eigenverantwortung der Koalitionäre ganz sicher nicht. Zwar bemüht sich die Sozialdemokratie, als im Selbstverständnis einzige breit aufgestellte Volkspartei, überzogener Eigenmilieupflege der beiden kleineren Koalitionspartner Einhalt zu gebieten. Doch der Koalitionsvertrag setzt solchen Versuchen Grenzen - und bei allen Regierungsparteien liegen die Nerven angesichts der aktuellen Zahlen einigermaßen blank.

Dabei belegt ein nüchterner Blick auf die Lage, dass das Unbehagen mit der Ampel durchaus ungleich verteilt ist. Zwar ticken maßgebliche Teile des Berliner Journalismusbetriebs nach wie vor grün - und träumen mehr oder weniger offen von einer schwarz-grünen Machtübernahme -, doch tatsächlich sind es in erster Linie die Vorhaben der Grünen, die die Bundesregierung von der Wählerschaft entkoppeln. Energiepolitik inklusive Kernkraft-Exitus, Verbrennungsmotoren-Aus, Wärmepumpen-Verordnung, Einwanderung wie zuletzt 2015 und das umstrittene Selbstbestimmungsrecht: Bei jedem dieser Themen vertritt die Koalition Positionen, die im Lande zumindest in der Art ihrer geplanten Umsetzung nicht mehrheitsfähig sind. Zum Teil stellen sich satte Zweidrittelmehrheiten gegen die Berliner Pläne.

Dabei registrieren die Wählerinnen und Wähler durchaus, wem im Berliner Dreiergespann sie die unbeliebtesten Positionen zu verdanken haben: dem Hause Grün. Die bisher so erfolgsverwöhnte Ökopartei ist in der Folge quasi über Nacht in schweres Fahrwasser geraten. Das aber eben nicht, weil die Öffentlichkeit den Grünen den vermeintlichen Ausverkauf ihrer ideale vorwirft. Im Gegenteil: Die Menschen haben vielmehr den Eindruck, dass die grüne Politik den Kurs hält, komme was wolle - auch wenn am Ende dieses Weges eine Wand wartet.

Mehr als ein Drittel des Rückhalts verloren

In jüngsten Umfragen haben die Grünen im Vergleich zum Vorjahr mehr als ein Drittel ihres Rückhalts verloren und sind zuletzt mit einem von ihnen zur Schicksalsfrage erklärten Klimareferendum krachend gescheitert - und zwar ausgerechnet im strukturell progressiven Berlin. Doch auch in anderen Städten wird der engagierte Rückhalt der wenigen von der wachsenden Skepsis der vielen ausgehebelt. In Frankfurt etwa schaffte es die grüne Oberbürgermeisterkandidatin zuletzt nicht einmal in die Stichwahl.

Auch im Bund stößt der Höhenflug des grünen Spitzenpersonals plötzlich an Grenzen. Sowohl Außenministerin Annalena Baerbock als auch Wirtschaftsminister Robert Habeck sind in den vergangenen Wochen vom ersten beziehungsweise zweiten Platz der Liste der beliebtesten Politiker abgestürzt. Baerbock liegt nun auf Rang acht, Habeck schafft es augenblicklich nicht einmal mehr in die Top 10. Selbst in ihrer traditionellen Kernkompetenz, der Klimapolitik, erhalten die Grünen Gegenwind. Nach Monaten der nervenaufreibenden Klimaproteste sind nur noch 32 Prozent der Deutschen der Ansicht, die Grünen hätten die überzeugendsten Rezepte gegen den Klimawandel.

Profitieren von dieser Entwicklung kann aktuell einerseits die Union und andererseits die Alternative für Deutschland (AfD). Die Rechtsaußen-Partei ist in weiten Teilen Ostdeutschlands bekanntlich seit längerem die stärkste politische Kraft. Dieser Trend hält an: Im ehemaligen roten Brandenburg liegt die AfD mit 25 Prozent stabil vor jedem politischen Konkurrenten. Und im Bund überholte sie jüngst mit 16 Prozent die Grünen als drittstärkste Kraft. Damit liegen die Rechten nur noch wenige Prozentpunkte hinter den Sozialdemokraten - und das trotz einer ziemlich unstrittigen stetigen Radikalisierung der AfD.

Besonders bemerkenswert ist hier: Die grundsätzliche Wahrnehmung der Partei scheint sich in Teilen zu verschieben - mit langfristig potenziell gravierenden Folgen. Zwar wird das AfD-Personal insbesondere in etablierten Medien auch zehn Jahre nach der Parteigründung auf Abstand gehalten - Talkshow-Einladungen zur Prime-Time etwa bleiben die Ausnahme. Doch der einst vorherrschende weitgehende Konsens der umfänglichen Ächtung bei den Wählerinnen und Wählern ist augenscheinlich am Schwinden. Derzeit gibt nur noch eine knappe Mehrheit der Deutschen zu Protokoll, die Partei mit dem blauen Logo unter keinen Umständen wählen zu wollen. 46 Prozent mögen das zumindest nicht mehr kategorisch ausschließen.

Dauerhaftes Kleinhalten der AfD ist kein Naturgesetz

Zwar bleibt eine realistische Machtoption für die AfD in Bund und Ländern weiterhin außer Reichweite, doch angesichts der Erfolge rechter Parteien in Europa - zuletzt in Italien, den Niederlanden und Finnland - wäre es fahrlässig, ein dauerhaftes Kleinhalten der AfD im Bund als naturgesetzlich gegeben vorauszusetzen. Mittelfristig dürfte viel davon abhängen, ob es der Union gelingt, verlorene Wähler von rechts wieder einzubinden und die von der AfD genutzte Repräsentationslücke strategisch zu schließen. Klar ist aber zugleich: Auch die Bundesregierung wäre gut beraten, die aktuelle öffentliche Missbilligung an Teilen gerade der grünen Agenda und den spiegelbildlichen Anstieg der Rechten zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren.

Sicher: Bis zum regulären Wahltermin dauert es noch. Und am Wahltag könnte der Wunsch nach Kontinuität ausschlaggebend bleiben. Deshalb ist der Ampel nun sicher nicht das Einlegen des Rückwärts- statt des Vorwärtsganges zu empfehlen. Und fest steht auch: Internen Streit goutiert die Öffentlichkeit ebenfalls höchst selten an der Wahlurne. Doch ein neues Austarieren zwischen Transformation und Bewahren wäre angesichts der Stimmung im Lande nicht die schlechteste aller denkbaren Kurskorrekturen. Nicht zuletzt, um den weiteren Anstieg von Rechtsaußen zu stoppen und einen blauen statt eines grünen Frühlings in Berlin zu verhindern.