Zum Hauptinhalt springen

Nicht "wie Schafe zur Schlachtbank"

Von Ronald S. Lauder

Gastkommentare
Ronald S. Lauder ist Präsident des Jüdischen Weltkongresses.
© www.worldjewishcongress.org

Vor 80 Jahren begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Die Motive für diesen aussichtslosen Kampf sind bestürzend.


Als die Insassen des Warschauer Ghettos in der Nacht auf den 19. April 1943 zu den Waffen griffen, taten sie das nicht in der Hoffnung, einen entscheidenden militärischen Sieg zu erzielen. Sie taten es auch nicht, um ihr eigenes Überleben zu sichern. Zu groß war die deutsche Übermacht, zu armselig die Ausrüstung der Aufständischen, zu geschwächt waren sie nach Monaten und Jahren harter Zwangsarbeit und Mangelernährung. Die wenigsten hatten je eine militärische Ausbildung genossen.

Die Aussichtslosigkeit des eigenen Unterfangens war allen Beteiligten bewusst. Mit ihrem Widerstand wollten sie zeigen, dass Juden kämpfen konnten, dass sie nicht "wie Schafe zur Schlachtbank" gingen. Das ist ihnen gelungen. Bis heute nötigen nicht nur ihr Mut und ihre Entschlossenheit all denjenigen tiefen Respekt ab, die ihre Geschichte hören. Auch der Umstand, dass es ihnen trotz der vielfachen deutschen Übermacht gelang, den Mördern über mehrere Wochen Widerstand zu leisten, erscheint beinahe übermenschlich. Ohne Frage: In der Liste der Helden des Zweiten Weltkriegs haben die Kämpfer des Warschauer Ghettos einen Ehrenplatz inne.

Dennoch: Allein der Umstand, dass sie glaubten, sich vor der Welt beweisen zu müssen, ist bestürzend. Noch bestürzender ist, dass sie damit recht hatten. Der Vorwurf, sich nicht gegen ihre Henker zur Wehr gesetzt zu haben und passiv ihr Schicksal erduldet zu haben, wurde den Opfern der Shoa tatsächlich immer wieder gemacht. Er zeugt nicht nur von Geschmacklosigkeit, sondern auch von großem Unverständnis über die Ohnmacht des Einzelnen gegenüber dem Apparat eines totalitären Staates.

Selbst wenn alle Juden im gleichen Maße Widerstand geleistet hätten wie die Helden des Warschauer Ghettos, sie hätten die deutsche Vernichtungsmaschinerie nicht stoppen können. Das konnte schließlich nur eine Koalition der stärksten Militärmächte der Welt. Und die Nationalsozialisten sorgten dafür, das Gefühl von Angst und Ohnmacht des Einzelnen zu verstärken. Das galt nicht nur für die Juden, sondern für die gesamte Bevölkerung unter Nazi-Herrschaft.

Terror war systematisch und allgegenwärtig, die Konzentration auf sich selbst war häufig die beste Überlebensstrategie, Mitleid mit anderen konnte den Tod bedeuten. Das galt in besonders schlimmer Weise in Polen, wo die Repressalien auch gegen die nicht-jüdische Zivilbevölkerung ungleich größere Ausmaße annahmen als in Westeuropa, von Deutschland ganz zu schweigen. Zwar war es auch in Deutschland verboten, Juden zum Schutz vor Verfolgung zu verstecken, die Strafen dafür waren aber eher milde, zumindest im Vergleich zu Polen, wo Hilfe für Juden mit der Todesstrafe geahndet wurde.

Die Tragödie der Juden und des polnischen Volkes

Die Tragödie des Warschauer Ghettos und die Tragödie der polnischen Juden waren eng verwoben mit der Tragödie des gesamten polnischen Volkes im Zweiten Weltkrieg. Kaum ein anderes Land hatte so sehr unter der deutschen Besatzung zu leiden wie Polen. Neben den drei Millionen polnischen Juden forderten Krieg und Okkupation das Leben von zwei bis drei weiteren Millionen nicht-jüdischer Polen. Beinahe zwei Millionen wurden zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Die Deutschen zerstörten systematisch die polnische Kultur und Intelligenz. Das Ausmaß der materiellen Zerstörung ist kaum zu beschreiben. Schließlich verlor das Land noch seine östlichen Gebiete an die Sowjetunion und Millionen von Menschen damit ihre Heimat. Dennoch ist die Dimension dieses Leidens bis heute außerhalb Polens kaum bekannt. Ich verstehe und unterstütze deshalb auch die Bemühungen der polnischen Regierung, das Wissen darüber auch im Ausland zu verbreiten.

Gleiches gilt auch für den militärischen Beitrag der Polen am alliierten Sieg über Nazi-Deutschland. Auch nach der Kapitulation der polnischen Armee im Oktober 1939 kämpften Polen an vielen Fronten. Mehrere zehntausend kämpften allein in den Reihen der aus Polen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft aufgestellten Anders-Armee im Iran und in Italien gegen die Deutschen. Und der Warschauer Aufstand im August 1944 war ein beispielloser Akt des Widerstands.

Dennoch lässt sich das Schicksal der nicht-jüdischen Polen nicht mit dem ihrer jüdischen Mitbürger und der übrigen Juden Europas vergleichen. Für die Polen hatten die Nazis die Versklavung vorgesehen, für die Juden die Vernichtung. Und während die Polen schließlich ihre Freiheit wiedergewannen, wenn auch unter gewaltigen Opfern, war die Vernichtung der polnischen Juden beinahe total: 90 Prozent wurden ermordet. Die jüdische Gemeinde in Warschau, die größte Europas, hörte faktisch auf zu existieren. Tausend Jahre jüdischer Kultur in Polen wurden innerhalb weniger Jahre ausgelöscht.

Tod durch SS-Kugeln statt Vergasung in Treblinka

Das Einzige, was die Juden des Warschauer Ghettos sich durch ihren Widerstand erkauften, war der Tod durch die Kugeln der SS statt der Vergasung in Treblinka. Dagegen waren die Handlungsoptionen der übrigen polnischen Bevölkerung trotz aller furchtbaren Zwänge durch die deutschen Besatzer vielfältiger und ihre Überlebenschancen deutlich höher. Und vielfältig war auch das Verhalten der Nicht-Juden gegenüber den Juden: Teile des polnischen Widerstands leisteten Waffenhilfe für die Kämpfer des Ghettos. Die Zegota, eine eigens dafür gegründete Untergrundorganisation, rettete tausenden Juden das Leben.

Mehr als siebentausend Polen werden in Yad Vashem als Gerechte der Völker geehrt, weil sie Juden vor der Vernichtung bewahrt haben - keine andere Nation ist so zahlreich in dieser Liste vertreten. Auf der anderen Seite gab es auch jene, die von der deutschen Politik profitierten, die "szmalcownicy", die Juden erpressten oder an die Deutschen auslieferten. Und es gab tatkräftige Kollaboration bis hin zur Unterstützung der Deportationen durch die örtliche Polizei.

Acht Jahrzehnte nach den Ereignissen soll es hier nicht darum gehen, den Stab über diese Leute zu brechen. In seinem berühmten Gedicht "Campo di Fiori" beklagt der polnische Lyriker Czesław Miłosz die Gleichgültigkeit der nicht-jüdischen Bevölkerung Warschaus während des Ghetto-Aufstandes, beschreibt dies jedoch gleichzeitig als eine allgemein menschliche Haltung, die weder zeit- noch ortsspezifisch sei.

Wir Menschen sind nicht zum Heldentum geboren

Bedauerlicherweise hat er wohl recht: Wir Menschen sind - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nicht zum Heldentum geboren. Und auch wenn ich den weitverbreiteten Antisemitismus der Zwischenkriegszeit nicht verschweigen möchte, maße ich mir schon deshalb kein Urteil an, weil ich selbst, glücklicherweise, nie in einer vergleichbaren Situation war. Ich weiß nicht, wie ich als Nicht-Jude unter den furchtbaren Bedingungen der deutschen Besatzung gehandelt hätte.

Dennoch gehört all dies zu einem vollständigen Bild der Vergangenheit. Inzwischen sind nur noch ganz wenige Überlebenden des Warschauer Ghettos unter uns. Und auch die übrigen Zeitzeugen der Shoah und des Zweiten Weltkriegs werden uns in den kommenden Jahren verlassen. Es bleibt unsere Aufgabe, das Gedenken an alle Verbrechen und ihre Opfer - jüdische wie nicht-jüdische - zu bewahren. Das muss allerdings aufrichtig und mit dem Bemühen um Wahrhaftigkeit geschehen. Dazu gehört die Benennung der dunklen Flecken der eigenen Geschichte ebenso wie die Betonung der Besonderheit des Holocaust im Vergleich mit den anderen NS-Verbrechen.