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Die Selbstentfremdung einer Jahrhundertbewegung

Von Daniel Witzeling

Gastkommentare
Daniel Witzeling ist Psychologe, Sozialforscher und Leiter des Humaninstituts Vienna.
© privat

Die österreichische Sozialdemokratie sucht ihre Spitze - aber wo ist ihre Seele hingekommen?


Heute endet die unverbindliche Befragung der SPÖ-Basis darüber, wer die Partei künftig anführen soll. Die Entscheidung darüber fällt freilich der außerordentliche Parteitag Anfang Juni in Linz.

Eigentlich wäre es gerade jetzt das ideale Zeitfenster der Sozialdemokratie. Die ÖVP wurde ihres Messias beraubt. Die Grünen sind in einer Koalition mit der Volkspartei gefangen und verlieren durch den Pakt mit den Konservativen zunehmend an Glaubwürdigkeit und Wählerstimmen. Mit einer geschickten Doppelstrategie aus linken Themen wie der Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen und einem realistischen Kurs bei der Asylthematik könnte die SPÖ von der Mitte der Gesellschaft aus nach links und rechts, wie einst Bruno Kreisky, ihre Signale ausstrahlen, ein Stück des Weges mit allen Österreichern gemeinsam gehen. Stattdessen zerlegt sich die einstige Massenpartei durch interne Machtkämpfe selbst. Eine mit notwendiger intellektueller Bandbreite, Autorität und Integrationsfähigkeit für alle Strömungen innerhalb der Partei ausgestattete Leitfigur fehlt anscheinend.

Seit Fred Sinowatz, der seinerzeit bekannte, dass er ohne die Partei nichts sei, begann bei den Sozialdemokraten in Österreich ein ideeller und personeller Verfallsprozess, der nun in einer wenig solidarischen Abstimmung zwischen einer für viele Teile der Bevölkerung affektiert anmutenden Ärztin, einem pannonisch-populistischen Patriarchen sowie einem gelernten Maschinenschlosser und Lokalmatadoren aus Traiskirchen, der von großen Revolutionen träumt, gipfelt.

Ein Mangel an gelebter Identität und an einer Identifikation mit Werten resultiert in Wahlniederlagen, die - verbunden mit einer emotionalen Taubheit für die Bedürfnisse der potenziellen Stammwähler - zum Phänomen der politischen Selbstentfremdung und somit zum Aufstieg alternativer linker Parteien wie der KPÖ oder der Bierpartei führen.

Die sonst so trittsichere Arbeiterbewegung scheint in einer Identitätskrise zu stecken. Von der Migrationsthematik bis hin zu anderen gesellschaftlich höchst relevanten Themen, wie dem Ukraine-Konflikt, dem Umgang mit pandemischen Problematiken oder der Inflation, ist es für die Sozialdemokratische Partei Österreichs - so macht es zumindest den Anschein - wahrlich ein Tanz auf sehr dünnem Eis. Da ist es wenig verwunderlich, dass die FPÖ in manchen demoskopischen Analysen mit einem Parteichef, der nicht über die charismatische Strahlkraft eines Jörg Haiders verfügt, die Pole-Position in der österreichischen Innenpolitik für sich beansprucht. Artifizielles Wiederholen von antifaschistischen Parolen aus Mangel an neuen Ideen, Lagerkämpfe in der eigenen Bewegung und unreflektiertes Imitieren von Zeitgeistthemen sind der traurige Ist-Zustand einer Partei, die einmal den Führungsanspruch in ganz Österreich gestellt hat. Doch für einen solchen Anspruch bedarf es mehr als romantischer Schönwetterpolitik vom linken Flügel der Bewegung oder populistischer Parolen des pannonischen Patriarchen, auch wenn dessen Seismografen politstrategisch besser justiert sind.