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Das Ende der Friedensdividende

Von Walter Feichtinger

Gastkommentare
Walter Feichtinger ist Präsident des Center für Strategische Analysen (www.csa-austria.eu), zuletzt war er Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement an der Landesverteidigungsakademie.
© Canaj Visuals

Die Militärausgaben steigen weltweit - ein deutlicher Hinweis auf verschärfte geopolitische Spannungen.


In der Ukraine tobt ein brutaler Krieg, im Südchinesischen Meer steigen die Spannungen um Taiwan, und Nordkorea feuert Raketen Richtung Japan. Vor diesem dramatischen Hintergrund präsentierte das schwedische Forschungsinstitut Sipri jüngst die Verteidigungsausgaben im Jahr 2022. Sie sind zum achten Mal in Folge gestiegen und haben den Rekordwert von 2,24 Billionen US-Dollar erreicht. Inflationsbereinigt ist das ein Anstieg um 3,7 Prozent. Man könnte sagen: kein Wunder angesichts der geopolitischen Verhältnisse.

Gibt das Anlass zur Sorge oder wirkt es beruhigend? Das hängt davon ab, wo man lebt. Denn die enormen Ausgaben konzentrieren sich auf bestimmte Regionen und wenige Staaten. Rüstungsausgaben stellen dabei einen Indikator für geopolitische Entwicklungen, Konflikte und Krisen dar. Je größer das gegenseitige Misstrauen ist, desto mehr vertraut man auf seine Streitkräfte.

Als erste Regel kann daher gelten: Wer sich bedroht fühlt, investiert in das Militär. Eine zweite Regel besagt: Wer große außenpolitische Ambitionen hegt, benötigt eine starke Armee, um seinen Ansprüchen Nachdruck zu verleihen. Beide Regeln haben derzeit höchste Gültigkeit, das dürfte sich auch so rasch nicht ändern.

Verteidigungsausgaben der Ukraine stiegen um 640 Prozent

So verwundert es zum Beispiel nicht, dass die Ukraine 2022 mit 640 Prozent (!) den höchsten je gemessenen Anstieg eines Verteidigungsbudgets verzeichnete. 44 Milliarden US-Dollar gab es für Verteidigungszwecke aus - exklusive ausländischer Militärhilfe. Der brutale Krieg fordert nicht nur viele Opfer, sondern verschlingt auf beiden Seiten auch Unmengen an Kriegsmaterial und Munition. Wichtigster Waffenlieferant sind die USA. Deren Anteil am weltweiten Rüstungsgeschäft ist von 2018 bis 2022 von 33 Prozent auf 40 Prozent gestiegen. Gemeinsam mit Russland (16 Prozent), Frankreich (11 Prozent), China (5,2 Prozent) und Deutschland (4,2 Prozent) lieferten sie weltweit 76 Prozent aller Waffen. Russlands Anteil am globalen Waffenmarkt ist hingegen in den vergangenen fünf Jahren von 22 Prozent auf 16 Prozent gesunken. Die Versorgung der eigenen Streitkräfte hat absolute Priorität, vermutlich wurden in der Kriegsvorbereitung auch Vorräte zurückgehalten.

Russlands Angriff auf die Ukraine hat ganz Europa aufgeschreckt. Viele Staaten schicken vermehrt Waffen, Gerät und Munition. Allerdings sind die Möglichkeiten begrenzt, gerade im Bereich der konventionellen Landesverteidigung bestehen erhebliche Defizite. Die Nato-Vorgabe von 2 Prozent des BIP für Verteidigung, die 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland beschlossen wurde, steht nunmehr außer Zweifel, manche betrachten sie als Untergrenze.

Doch die Folgen der sogenannten Friedensdividende - der radikalen Senkung der Verteidigungsausgaben nach dem Kalten Krieg - machen sich gerade im Rüstungsbereich schmerzhaft bemerkbar. Russlands Vorgehen auf der Krim und die Separatistenkämpfe im Donbass bewirkten bis zum Kriegsausbruch noch kein klares sicherheitspolitisches Umdenken. Panzer, Flieger, Kanonen und vieles mehr sind daher Mangelware. Auch die Produktion von Granaten kann nicht auf Knopfdruck vervielfacht werden. Erst im Angriffsjahr 2022 wurde eine "Zeitenwende" ausgerufen, die Verteidigungsausgaben stiegen in Europa um 13 Prozent auf 477 Milliarden Dollar - den höchsten Wert seit dem Ende des Kalten Krieges.

Sturmwarnung im Indopazifik

Chinas Machtansprüche im Ost- und Südchinesischen Meer sowie die Rivalität zwischen China und den USA treiben die Rüstungsausgaben. Das Weiße Haus erhöhte das Verteidigungsbudget drastisch von 742 auf 877 Milliarden Dollar. Daneben wirken Chinas 292 Milliarden Dollar beinahe bescheiden - allerdings sind das 7,2 Prozent des BIP, und es war die 28. Anhebung des Verteidigungsbudgets in Folge. Außerdem trügt der Schein, denn ein reiner Zahlenvergleich ist irreführend. Immerhin verfügt China bereits über mehr Schiffe als die USA. Letztlich geht es darum, welche Investitionen möglich sind.

In der Region herrscht infolge ungelöster Territorialkonflikte und des dominanten Auftretens der Führung in Peking große Verunsicherung. Es wird aufgerüstet, Japan zum Beispiel wird seine Verteidigungsausgaben verdoppeln. Es befindet sich zusätzlich im Streit mit Russland um die Südkurilen und sieht sich wie Südkorea von Nordkoreas Atom- und Raketenprogramm bedroht. Die von Russland und China zelebrierte "grenzenlose strategische Partnerschaft" sorgt für weiteres Unbehagen und fördert die Anlehnung vieler Staaten der Region an die Schutzmacht USA.

Indien möchte als Regionalmacht Chinas Vordringen in seine Machtsphäre unterbinden und lag mit Verteidigungsausgaben von 81,4 Milliarden Dollar (2,43 Prozent des BIP) im Vorjahr weltweit an vierter Stelle. Das nun bevölkerungsreichste Land der Erde ist unverändert der größte Waffenimporteur, auch wenn die Einfuhren in den vergangenen Jahren zurückgegangen sind. Der größte Teil kommt weiter aus Russland.

Auch der Nahe Osten rüstet sich

In der dritten Krisenregion, dem Nahen Osten, sind zwar laut Sipri die Waffenimporte im Zeitraum 2018 bis 2022 gegenüber 2012 bis 2017 um 8,8 Prozent zurückgegangen, verharren aber unverändert auf sehr hohem Niveau. Das wirtschaftsschwache Ägypten wendete zwar nur etwa 1,3 Prozent des BIP für Verteidigungsbelange auf, doch in den Emirate (5,2 Prozent) und Saudi-Arabien (7,42 Prozent) war der Anteil wesentlich höher. Das kleine Emirat Katar hat seine Waffenimporte zuletzt sogar um 311 Prozent gesteigert. Machtansprüche, Angst vor Umsturzversuchen oder konkrete Bedrohungen aus dem Bürgerkriegsland Jemen oder dem Iran treiben diese hohen Ausgaben. Die USA sind zwar noch der wichtigste Waffenlieferant, doch Russland und China gewinnen an Boden. Viele Beobachter werten das als Vertrauensverlust gegenüber den USA.

Die iranischen Militärausgaben werden auf 6,85 Milliarden Dollar geschätzt, das wären 2,59 Prozent des BIP. Natürlich sind diese Zahlen angesichts der internationalen Isolation und mangelnder Transparenz mit großer Vorsicht zu genießen. Allerdings konnte der Iran bisher seine Verbündeten im Libanon, in Jemen und in Palästina maßgeblich unterstützen und stellt eigene Truppen in Syrien. Darüber hinaus wurden zum Beispiel Drohnen entwickelt, die Russland im Ukraine-Krieg vermehrt einsetzt.

Als bedeutender Akteur in der Region muss auch die Türkei erwähnt werden. Sie strebt nach Einfluss und strategischer Souveränität, die sich vermehrt auf eine eigene Rüstungsindustrie stützt. Dafür fallen die Verteidigungsausgaben mit etwa 2 Prozent des BIP (rund 16 Milliarden Dollar) relativ bescheiden aus. Offensichtlich besteht eine Kluft zwischen den politischen Ambitionen des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und den ökonomischen Kapazitäten des Landes.

Atomare Rüstung als Geldfresser

Russlands Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen hat selbst seinen wichtigsten Partner China alarmiert. Doch die Warnung wirkt. Nukleare Abschreckung, Hyperschallraketen und Raketenabwehrsysteme werden an Bedeutung gewinnen und zu immensen Investitionen führen. Sämtliche Atommächte sind dabei, ihre Arsenale zu modernisieren oder auszubauen. Weitere Staaten haben ihr Interesse an Atomwaffen bereits kundgetan - zuletzt Südkorea. Eine Absicht mit unabsehbaren Folgen, da gleichzeitig Verträge und Maßnahmen zur Rüstungskontrolle an Gültigkeit und Bedeutung verlieren.

Bedauerlicherweise weist vieles darauf hin, dass der Ausgabentrend anhalten wird. Wenn Misstrauen und Unsicherheit dominieren, gehen Staaten auf Nummer sicher: Sie investieren in ihre Streitkräfte. Auch wenn die geopolitischen Ansprüche steigen, setzt man auf militärisches Potenzial. So hat der Volkskongress in Peking dem Militär bereits im heurigen März zusätzliche Mittel zugesagt - trotz der stärksten Budgeterhöhung im Vorjahr. Sein Gegenspieler USA hat schon 2022 die Verteidigungsausgaben signifikant gesteigert - es wird nicht das letzte Mal gewesen sein. Ebenso wird das kriegführende Russland in absehbarer Zeit deutlich mehr Geld in die geschwächte Armee stecken. Selbst wenn der Krieg in der Ukraine bald ein Ende finden sollte, wird sich Europa viele Jahre auf einen neuen Angriff Russlands vorbereiten.

Es war nun das achte Jahr in Folge, dass die weltweiten Verteidigungsausgaben gestiegen sind. Man braucht kein Prophet zu sein, um zu sagen, dass Sipri in einem Jahr einen ähnlichen Befund präsentieren wird. Im voriges Jahr betrug der Anstieg 3,7 Prozent. Es wäre keine Überraschung, wenn er in einem Jahr noch höher ausfallen würde. Denn die Zeit der Friedensdividende ist auf lange Sicht vorbei.