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Der Agrarimportstreit und der Kern Europas

Von Andreas Raffeiner

Gastkommentare
Andreas Raffeiner hat in Innsbruck Geschichte studiert, lebt und forscht in Bozen und ist als freier Autor, Redakteur, Referent und Rezensent tätig.
© Katharina Fink

Die EU-Staaten vertreten ihre Interessen handfest und verteidigen sie bis aufs Blut.


Wie hieß es damals im Erdkundeunterricht in der Schule? Die Ukraine ist die "Kornkammer Europas". Die fruchtbare ukrainische Schwarzerde, die zu den besten Ackerböden der Welt gehört, besticht durch ihre Krümeligkeit, ihren Humusreichtum und ihre Kalkhaltigkeit. Im Jahr vor dem russischen Einfall in der Ukraine trug der dortige Agrarsektor etwas mehr als 10 Prozent zur Entstehung des Bruttoinlandsprodukts bei; der Anteil landwirtschaftlicher Erzeugnisse an den ukrainischen Ausfuhren lag sogar bei 41 Prozent.

Jetzt, zwei Jahre später, erinnert der Streit über Agrarexporte aus der Ukraine in angrenzende EU-Mitgliedsländer daran, dass die Öffnung der Gemeinschaft für das von den Truppen des russischen Präsidenten Wladimir Putin arg gebeutelte und angegriffene Land mehr als nur ein Zeichen symbolischer Solidarität verkörpert. Es ist ein Sinnbild geworden, ein Sinnbild eines schier alltäglichen europäischen Geschäfts, das in dieser Art und Weise aber die Europäische Union undurchschaubar erscheinen lässt.

Der 27 Staaten umfassende Bund - wenn man ihn denn als solchen bezeichnen kann - ist aber auch bürokratisch; die Brüsseler Mühlen mahlen langsam, und es herrscht nicht immer Konsens, Friede, Freude, Eierkuchen. Der Kern des Gelingens der Europäischen Union kann trotz denkbar wachsender Skepsis in der Verwirklichung eines kollektiven Wirtschafts- und Rechtsraumes dingfest gemacht werden. Die EU-Mitgliedstaaten vertreten ihre Interessen handfest und verteidigen sie bis aufs Blut. Doch Kriegsrhetorik ist fehl am Platz; es ist im Interesse aller, dass Kompromisse gefunden werden und diese auch ausbalanciert sind.

Dessen ungeachtet verlangen die ostmitteleuropäischen Länder im Interesse ihrer Bauern verständlicherweise für die Einfuhr ukrainischer Agrarerzeugnisse Einschränkungen. Sie wollen sich schützen; ihre Sachargumente überzeugen, finden Anklang und sind auch mit großem Bedacht gewählt, auch wenn es vielleicht anfänglich nicht loyal aussieht. Es liegt in der Hand, dass die Schwierigkeiten, die durch die politisch taktisch kluge und demzufolge richtige Aufhebung der Agrarzölle im vergangenen Jahr ihren Anfang nahmen, ebenfalls in der ukrainischen Landwirtschaftsstruktur begründet liegen.

Bevor man ernsthafte und aufrichtige EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufnimmt oder derartige Gedankenspiele aufkeimen lässt, muss man die bestehenden Konflikte beseitigen, die noch schwelen oder bereits vorhanden sind. Alles andere entspräche in keiner Weise dem europäischen Normalzustand. Der russische Angriffskrieg hat das Bild jedoch verzerrt, fast zerstört. Da Präsident Putin die Abmachung zum Export ukrainischen Getreides über das Schwarze Meer auf keinen Fall verlängern will oder zumindest mit diesem negativen Szenario droht, muss die Europäische Union für alle Beteiligten eine akzeptable oder ansatzweise befriedigende Lösung finden. Der Blick auf den Kalender zeigt dabei: Es ist drei vor zwölf, auch für die "Kornkammer Europas".