Zum Hauptinhalt springen

Öffi-Fahrer unterwegs

Von Gerhard Stadler

Gastkommentare
Gerhard Stadler war Sektionschef im österreichischen Verkehrsministerium und danach Direktor der europäischen Flugsicherungsorganisation Eurocontrol.
© privat

Mit dem Klimaticket durch Österreich - ein Selbstversuch.


Für die nach EU-Vorgaben notwendige Reduktion der CO2-Emissionen braucht Österreich auch den dauerhaft attraktiven Umstieg von Privat-Pkw auf öffentliche Verkehrsmittel. Mit dem österreichweit geltenden Klimaticket um 1.095 Euro für Erwachsene ab 26. Oktober 2021 erfüllte Klimaschutz- und Mobilitätsministerin Leonore Gewessler (Grüne) zifferngenau ein im Regierungsprogramm 2020 enthaltenes Versprechen: für 3 Euro pro Tag durch ganz Österreich. Als Zuschuss aus dem Bundesbudget sind jährlich 160 Millionen Euro fixiert.

Da das Ticket auf die bereits bestehenden Regionaltickets aufgesetzt wurde, gibt es Unterschiede in der Benützung je nach Bundesland (zum Beispiel bei der Mitnahme von Fahrrädern). Da Seilbahnen, Schifffahrtslinien und Nostalgieangebote nicht enthalten sind, umfasst das Ticket nicht wie angekündigt den gesamten öffentlichen Verkehr - die AGB sind nun im Kleindruck vier Seiten lang, inklusive der 42 (!) Buchstaben langen Wortschöpfung Verkehrsverbundorganisationsgesellschaften. Trotzdem lassen sie viele Fragen offen, etwa für den Bus über das "kleine deutsche Eck" (er ist, laut Auskunft des Salzburger Verkehrsverbundes und Selbstversuchen, inbegriffen).

Das Klimaticket wird gekauft, im vergangenen Jahr 220.000 Mal. Wie viele Nutzer aber tatsächlich neu sind und wie viele bloß ihr Regionalticket räumlich erweitert haben, ist nicht bekannt (vom Verkehrsbund Ostregion auf ganz Österreich ist die Preisdifferenz nur 335 Euro). Auch ist der Umfang seiner Benützung kaum feststellbar, da er nur in den Bahnen mit dem QR-Ablesen bisweilen dokumentiert und häufig nicht einmal kontrolliert wird.

Es funktioniert jedenfalls: Um das Streckennetz der ÖBB (inklusive "großes deutsches Eck") und der Privatbahnen als Rückgrat gibt es das Netz der Linienbusse bis in (fast?) alle Gemeinden. Dabei zeigt sich freilich ein praktisches Problem: In den vergangenen Jahren wurde es beachtlich und hoch subventioniert von den Ländern ausgebaut, doch eher nur, um den Schüler- und Pendlerverkehr zu bedienen.

Neue reizvolle Bahnziele

Damit haben die Fahrpläne an den Wochenenden und während der Schulferien beträchtliche Lücken und dämpfen so stark den Willen grün gesinnter Freizeitmobilen zum Abschied von der CO2-Emission. Das IT-Fahrplaninformationssystem "Scotty" der ÖBB nützt dem, der schon weiß, wann er wohin und wieder zurück fahren will. Wer aber Zielvarianten vergleichen will, oder nur eine Idee für einen Sonntagsausflug hat, braucht viel Zeit vor dem Bildschirm und Übung. Gedruckte Fahrpläne sind selten geworden und schwer erhältlich.

Der Autor dieser Zeilen kann sie noch lesen und hat, im Unruhestand des rüstigen Pensionisten, das Klimaticket für Senioren um 821 Euro gekauft. Und mit ihm neue Routen und Typen des Reisens in Österreich entdeckt. Da ja, psychologisch gefühlt, nach dem erfolgten Kauf jede Fahrt gratis scheint, lässt man sich zu Ortswechseln verführen, die man früher nicht gemacht hätte: etwa zu einer Ausstellung oder einem Event, deren Besuch interessant, aber nicht notwendig scheint, oder zu einem Theater-, Konzert- oder Festspielbesuch, den man sich bisher wegen der Nächtigungskosten versagt hat. Auf der Weststrecke sind mit den Spätabendverbindungen des Railjet Express solche Exkursionen möglich geworden, zwischen Wien, Linz und Salzburg, zwischen Salzburg und Innsbruck, auf der Südstrecke zwischen Wien und Graz. Aber nicht vergessen, sich vorher zu erkundigen, wann eine Aufführung endet, und noch den Fahrplan des innerstädtischen Verkehrsmittels zum Hauptbahnhof im "Scotty" nachsehen!

Auf der Weststrecke ist man auf längeren Entfernungen schneller als mit dem Pkw, auf der Südstrecke nicht, und Nord-Süd-Fahrten dauern wesentlich länger. Für Wanderausflüge sind Varianten leicht geworden, die früher selbst mit einem Auto schwierig zu bewältigen waren: Rund- und Streckenwanderungen etwa entlang der Semmeringbahn vom Bahnhof Semmering bis Payerbach, im Pinzgau von Zell westwärts oder im Gasteinertal (da aber bei diesen Linien heuer Strecken gesperrt sind, abreisezeitnah wieder "Scotty" aufrufen!), entlang der Kamptal-, der Zillertal- oder der Salzkammergutbahn.

Besonders reizvoll sind in die Waldeinsamkeit führende Wanderungen über Höhenzüge zwischen zwei Tälern mit Bahnlinien: zwischen dem Triestingtal und dem Piestingtal oder von diesem nach Puchberg, zwischen dem Traunsee und dem Almtal oder - mehrtägig und Hochgebirgserfahrung wie sicheres Wetter voraussetzend - vom Pinzgau (von der Haltestelle Hollersbach mit Hüttentaxi) über die Hohen Tauern (Sandebentörl) nach Matrei (Bus) oder Lienz (Bahn).

Verlage nehmen in ihre neuen Wander- und Gebietsführer (für Salzburg zum Beispiel "Startpunkt Haltestelle") ebenso wie alpine Vereine diese Wieder-Ermöglichung historischer Touren auf und bringen damit neue Vorschläge für "Bahn zum Berg"-Touren aller Konditionsgrade. Auch jenseits der rot-weiß-roten Grenzen gilt das Klimaticket bis zu den Betriebsübergabebahnhöfen Passau, Lindau, Buchs, Brenner, Tarvis, Sopron und anderen. Passau etwa erreicht man im Zweistundentakt mit den bequemen ICE-Zügen von Wien in zweieinviertel Stunden. Die barocke Stadt liegt einmalig am Zusammenfluss dreier Flüsse (und die Hauptstraße mit vielen modisch wie preislich attraktiven Geschäften beginnt gleich beim Hauptbahnhof).

Vorreiter in Europa

Österreich ist mit seinem hoch subventionierten Klimaticket ein Vorreiter in Europa. Das Schweizer Jahresgeneralabonnement, das rund 400.000 Mal verkauft wird, kostet etwa das dreifache, doch mit 50 Prozent Ermäßigung bei Seilbahnen, Schiffslinien und Eintritten. Es gibt Familienrabatte und auch Kurzzeit-Abonnements (SwissTravelPass). In Bayern, dem einzigen an Österreich grenzendem deutschen Bundesland, gibt es ab 24 Euro Tagesnetzkarten für bis zu fünf Personen, wobei Kinder bis 14 Jahren nicht zählen. Ein Ausflug von Oberösterreich, Salzburg oder Tirol nach Regensburg, Nürnberg, München oder Augsburg ist daher günstig, auch wenn dieses Ticket nicht in Fernzügen gilt. Das erste internationale Gebietsticket ist das Bayern-Böhmen-Tagesticket, ab 30 Euro von Kufstein bis nach Liberec/Reichenberg und retour.

Hingegen ist das gerade für ganz Deutschland eingeführte 49-Euro-Monatsticket für im Ausland Wohnende von sehr geringem Zweck: Es soll Tagespendler im Nahverkehr von der Straße dauerhaft auf die Schiene bringen. In Ungarn und der Slowakei wiederum gilt für Senioren (ab 65 Jahren) der Nulltarif auf Bahnen, allerdings mit einem eigenen Ausweis beziehungsweise Platzreservierung.

Ob unser Klimaticket seinen originären Zweck - der Reduktion der CO2-Emissionen - erfüllt, wird sich kaum beweisen lassen (immerhin trägt der Autor dazu bei: Fahrten zum Zweitwohnsitz erfolgen jetzt regelmäßig mit der Bahn, liegt dieser doch nur vier Kilometer vom nächsten RJX- und Westbahnhalt entfernt). Aber es bietet allen am Klimaschutz Interessierten neben den täglich notwendigen viele Chancen zu weiteren Fahrten in Österreich (vielleicht auch anstelle von Auslandsreisen?). Voraussetzung ist bei den je nach Zielort unterschiedlichen Frequenzen die Bereitschaft zu zeitlichem Mehraufwand und ein Verzicht auf gewisse Bequemlichkeiten, etwa bei der Mitnahme von Gepäck und beim "Weg des letzten Kilometers" vom Halte- zum Zielpunkt.

Gelegenheiten zum besseren Kennenlernen Österreichs und zu häufigeren Besuchen bei Verwandten und Freunden sind offen. Aber um Österreich außerhalb Wiens vom "Autoland" zum "Bahnland" zu machen, müsste noch viel geschehen: Der Kauf des Klimatickets sollte jedenfalls attraktiver gemacht werden - etwa durch punktuelle Frequenzerhöhungen, um die peinliche Überfüllung, sogar Zurückweisung von Zusteigenden in die in ihrer Kapazität starren Railjets zu beenden, Zusatzleistungen wie von Fall zu Fall bei regionalen Tickets, die Gratis-Mitnahme von Kindern, ein Partnerticket, die Einbeziehung begrenzter touristischer Angebote wie Bahnnostalgiefahrten oder die Bevorzugung von Klimaticket-Inhabern bei Park&Ride-Systemen. Notwendigkeiten gibt es einige, gute Ideen gäbe es hier viele, gefragt sind Initiativen, Verhandlungen und Kooperation.

Probleme im Bahnnetz

Drei Probleme gefährden die Zukunft des Klimatickets: Die hohe Inflationsrate besonders bei den Energiepreisen sowie die Steigerung der Löhne treffen alle Verkehrsbetriebe überdurchschnittlich. Soll der nun für weitere drei Jahre zugesagte Preis von 3 Euro je Tag gehalten werden, bedarf dies wohl schon im kommenden Jahr nicht nur im Bundesbudget einer Zuschusserhöhung - oder der Leistungsumfang muss eingeschränkt werden. Die Weiterführung zahlreicher Kurse würde hinterfragt werden müssen (der Autor war öfters in Bussen und sogar in Regionalzügen deren einziger Passagier), und die Spirale des Angebots könnte sich nach unten umkehren, mit Folgen für das mühsam abgestimmte flächendeckende System. Ein Problem, das sich nicht befriedigend lösen lässt.

Die Erhöhungen der Frequenzen und des Gewichtes der Züge belasten ein Bahnnetz, das, von den Neubaustrecken für den Railjet abgesehen, das Alter von 100 Jahren überschritten hat. Die Folgen sind Langsamfahrstellen, Bauarbeiten, Betriebsstörungen, geplante Streckensperrungen mit verzögerndem Schienenersatzverkehr, darüber hinaus unvorhersehbare Polizeieinsätze, S-Bahn-Zugsausfälle "wegen krankheitsbedingter Personalknappheit".

Die Pünktlichkeitsrate des ÖBB-Fernverkehrs erreichte im Sommer 2022 mit 76 Prozent einen neuen Tiefstand - somit waren 24 Prozent der Züge mehr als 15 Minuten verspätet und die Anschlusszüge und -busse meist abgefahren. Da die Entwicklung in den Nachbarstaaten (außer der Schweiz und Italien) noch schlechter ist, kumulieren oft die Verspätungen, was im Nightjet-Betrieb der ÖBB selten zu pünktlichem Ankommen führt. Die fünf Verkehrsleitzentralen der ÖBB tun ihr Möglichstes, doch ist die Information an die betroffenen Reisenden oft spärlich.

Das dritte, unbedingt zu lösende Problem ist die zunehmende Knappheit an Buslenkern, Lokführern und technischem Wartungspersonal für Schienen- wie Straßenfahrzeuge. Die Alterspyramide, die ständigen gesundheitlichen wie psychologischen Anforderungen, die strengen Vorschriften betreffend Einsatz- und Ruhezeiten, die notwendigen Schicht- und Feiertagsdienste haben diese Jobs zu Mangelberufen gemacht. Ein Kfz-Führerschein D nach der EU-Richtlinie beziehungsweise der EU-Triebfahrzeugfahrerschein sind in der ganzen EU gültig und setzen Prüfungen beziehungsweise bis zu drei Jahre Schulung oder Berufserfahrung voraus.

Nachwuchs ist spärlich und muss schon heute überwiegend aus dem Ausland rekrutiert werden, wobei oft die mangelnden Deutschkenntnisse eine erste Barriere bilden. Einer Anwerbung aus dem Nicht-EU-Ausland müssen außerdem zusätzliche Vorbereitungen und Prüfungen folgen. Für den weiteren Erfolg des Klimatickets in Österreich wird es auch mehr Lokführer und Buslenker brauchen.