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Schulen der Union

Von Willibald Feinig

Gastkommentare
Willibald Feinig (Jahrgang 1951) hat Germanistik, Romanistik und Theologie studiert. Er war von 1975 bis 1979 Benediktiner und danach bis 2011 Gymnasiallehrer. Er war selbst Schüler einer Schule, die 1918 mit ähnlicher Zielsetzung ins Leben gerufen worden war.
© Nikolaus Walter

Ein Appell für ein ganzheitliches europäisches Unterrichtssystem.


Jede Gesellschaft, jede Gemeinschaft sorgt für Schulen, die den unter Mühen und Kämpfen errungenen Konsens weitergeben und in den Herzen Jugendlicher verwurzeln. Auch die Europäische Union, ein Staatenbund, entstanden nach Jahrhunderten von Vorherrschaftsdenken, Nationalismus und Kolonialismus, braucht ein Netz von Schulen der Union, um Bestand zu haben.

Die Schulen der Union, von denen im folgenden Appell die Rede ist, sind Sekundarschulen für Schülerinnen und Schüler zwischen 10 und 18 Jahren und zugleich Internate und Lehrwerkstätten. Ihre Fundamente sind Beispiel und Praxis. Diese Grundprinzipien der großen Pädagogen werden durch die Idee der Patenschaft ergänzt.

Basis der Pädagogik der Unionsschulen ist das Beispiel. Lehrer und Erzieher (beiderlei Geschlechts, mit oder ohne Familie) teilen das Leben der Jugendlichen. Diese kommen aus mindestens zwei in der Regel benachbarten Nationalitäten. Sie lernen den rapiden technischen Fortschritt kennen ebenso wie das Erbe, die Tradition und das Wissen der Generationen vor ihnen.

Sprachliche und soziale Durchmischung

In den Unionsanstalten wird mindestens eine Sprache eines benachbarten Landes unterrichtet und gesprochen: in Transsylvanien zum Beispiel Ungarisch, in Südtirol Italienisch, in Norddeutschland Dänisch, Schwedisch oder Polnisch, in Tschechien Deutsch, in Aquitanien Baskisch oder Spanisch, in Flandern Französisch und so weiter. Erste Unterrichts- und Gebrauchssprache ist die Sprache des Landes, in dem sich die Schule befindet, als dritte Sprache lernen die Schülerinnen und Schüler eine der in der Union am weitesten verbreiteten und benutzen sie auch.

Die Hälfte von ihnen kommt aus Familien, die nicht die nötigen Mittel für eine adäquate Ausbildung ihres Kindes haben, oder sie sind Waisen oder müssen weit entfernt von ihren Bezugspersonen leben oder haben Krieg, Gewalt oder Flucht am eigenen Leib erfahren. Ihr Schulgeld wird von der Europäischen Union übernommen. Die übrigen Schulplätze sind an Jugendliche zu vergeben, deren Eltern ihrem Kind ein Aufwachsen unter Gleichaltrigen verschiedenster Herkunft in einem Klima sozialer und intellektueller Verantwortung ermöglichen wollen. Sie bezahlen Schulgeld entsprechend ihrer finanziellen Situation. Erzieherinnen der Unionsinternate müssen darauf vorbereitet sein, dass die ihnen Anvertrauten oft aus schwierigen Familienverhältnissen stammen.

In der Schule der Union findet nicht nur konzentrierter Unterricht statt, der altersgemäße Beteiligung und Verständnis verlangt, zu Interesse und Kreativität anspornt und europaweit gilt, sondern auch Handarbeit. Die Schülerinnen und Schüler erlernen ein klassisches Handwerk. Das Ziel der Erziehung im Internat sind umgängliche Charaktere, die Achtung vor dem Anderen haben.

Damit sich dieser Geist entfalten kann, ist jede Unionsschule eine ökonomische Einheit mit eigenem Budget und Handlungsspielraum. Sie soll gemäß den Paradigmen der Kreislaufwirtschat und des Umweltschutzes geführt werden. Die Schulen der Union fügen sich in die gegebene Infrastruktur und in die existierenden Schulsysteme ein. Die Kandidatenauswahl erfolgt auf Empfehlung von (Primarschul-)Lehrern oder anderer, die ihre Begabungen kennen; die Kandidatinnen und Kandidaten legen eine Prüfung vor einer Kommission aus geeigneten Lehrerinnen und Lehrern des nationalen Schulsystems ab, unter der Aufsicht des zuständigen Mitglieds der EU-Kommission.

Intellektuelles und praktisches Können

Die hochspezialisierte Welt verlangt dringend nicht nur intellektuelles, sondern auch praktisches Können. Praxis ist das zweite Fundament der Schule der Union. Das Abgangszeugnis beinhaltet auch eine abgeschlossene Lehrlingsausbildung in einem Handwerk wie Tischler, Köchin, Gärtnerin, Mechaniker oder Landwirt. Die Lehre - parallel zum Unterricht - dauert in der Regel zwei Jahre. Lehrlinge in den Unionsschulen erhalten einen kleinen Lohn, überall in der Europäischen Union den gleichen. Die Lehrberufe sind entsprechend den Gegebenheiten und Bedürfnissen zu wählen. Wenn wir die Liebe zu gut gemachter Arbeit und zum Handwerk mit dem geistigen Fortschritt der Schüler verbinden, geben wir gleichzeitig kulturelle und technische Fertigkeiten weiter, die in Vergessenheit zu geraten drohen, in Krisenzeiten aber unerlässlich bleiben.

Ab einem gewissen Alter beteiligen sich die Jugendlichen an den nötigen Arbeiten und Dienstleistungen im Garten, bei der Reinigung, im Büro, bei der Mülltrennung, am Tischdienst und so weiter. Labors für naturwissenschaftliche und künstlerische Betätigung, Bibliothek und Medien stehen ihnen zur Verfügung. Sie praktizieren Sport und Spiel, etwa Schach, und nehmen an allen möglichen Wettbewerben teil.

Sobald sie das nötige Sprachniveau erreicht haben, verbringt jede Klasse ein Semester in einer Unionsschule eines anderen EU-Landes. Wirtschaft, Umwelt und internationale Beziehungen sind vollwertige Fächer im Lehrplan der Schule der Union. Die Schülerinnen und Schüler müssen mit der Religion und Kultur Europas vertraut gemacht werden, um für die Gegenwart gerüstet zu sein. Statt Schultourismus beschäftigen sie sich mit Musik, Theater, Film oder Zirkus, mit Kunst und Wissenschaft, mit der Schulzeitung oder der Homepage der Schule.

Kontakt mit der Natur und Patenschaften

Wenn möglich unter Wiederverwendung bestehender oder aufgegebener Infrastruktur wie ehemaliger Kasernen, Schlösser, Klöster, Höfe oder Fabriken sollen Unionsschulen - mit nicht mehr als 400 bis 500 Kindern und Jugendlichen - an Orten untergebracht sein, die den Kontakt mit der Natur erlauben. Die Direktion wird vom Lehrkörper gewählt, nach Zustimmung des nationalen Ministeriums und der EU-Kommission. Sie ist zuständig für die Anstellung geeigneter Lehrkräfte, Erzieher und Werkstattleiter, Frauen und Männer, nach Prüfung und Konsultation mit Inspektorin, Internatsleiterin und Verantwortlicher oder Verantwortlichem für die Werkstätten. Bei schwerwiegenden Entscheidungen wird ein Schulrat einberufen, der aus allen an der Schule Tätigen sowie den Klassenvertreterinnen und -vertretern ab dem Lehrlingsalter sowie drei Delegierten der Patinnen und Paten besteht. Im Interesse der Schule und der Europäischen Union ist die Direktion verpflichtet, auf sie zu hören und ihren Rat gewissenhaft zu berücksichtigen.

Trotz ihrer historischen Verdienste haben viele Internate für Jugendliche verschiedensten Alters, selbst sehr angesehene, private wie öffentliche, schlimmsten Missbrauch nicht verhindert. Deswegen, besonders im Hinblick auf die zahlreichen schutzlosen Kinder ohne Familie, muss ein Netz von Paten und Patinnen die Schulen der Union mittragen. Bei diesen Freiwilligen finden vor allem die alleinstehenden oder verlassenen Kinder und Waisen Unterstützung, Schutz und im Notfall Zuflucht außerhalb der Schulzeit. Alle Beteiligten - das Land und die Region, in der die Unionsschule liegt, das zuständige EU-Kommissionsmitglied sowie jene, die Kandidatinnen und Kandidaten empfehlen - arbeiten zusammen bei der Suche nach geeigneten Freiwilligen. Ihr Netzwerk ist wesentlich für ein gutes Funktionieren der Schule der Union.