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Zeit für ein neues Miteinander

Von Karl Pangerl

Gastkommentare
Karl Pangerl ist BHS-Lehrer in Oberösterreich. Er war Mitglied des Europäischen Forums Alpbach und ist seit 2001 Unesco-Schulreferent.
© privat

Wofür sterben die Menschen in der Ukraine?


Kriege machen jene zu Helden, die für einen Irrtum sterben. Je größer der Irrtum, desto größer die Helden, um den Irrtum zu verdrängen. Erinnern Heldenepen an die Heerführer historischen Schlachtens, so durchbrachen die Kriegerdenkmäler der beiden Weltkriege die Namenlosigkeit und brachten eine Demokratisierung des Sterbens. Was sind nun die Irrtümer im Ukraine-Krieg?

Der Irrtum Russlands besteht darin, im Trauma des Zerfalls der Sowjetunion zu verharren. Österreich seinerseits musste zwei Katastrophen durchleiden; heute sind wir von befreundeten Staaten umgeben, respektieren einander bei allen Unterschieden und nutzen in der Europäischen Union Grenzen als Brücken. Größe bemisst sich an der Qualität des Miteinanders.

Der Irrtum Europas liegt in Unaufrichtigkeit sich selbst gegenüber, wenn es im Abwehrkampf der Ukraine eine Verteidigung europäischer Werte propagiert. Vom Aufschwung des Popu-
lismus über digitale Verengung oder gar Entmenschlichung des Fortschritts und die Aushöhlung von Justiz und Pressefreiheit bis hin zur Kriminalisierung Jugendlicher, die um ihre Zukunft ringen - tagtäglich zeigt sich, wie begrenzt, materialistisch und ängstlich das Verständnis von Demokratie geworden ist.

Die USA ringen mit ihrem inneren Widerspruch, außenpolitisch in einem Rollenverständnis gefangen zu sein, dem sie innenpolitisch nicht mehr gewachsen sind. Umgekehrt steigt China materiell zur Großmacht auf und verkennt die berechtigten moralischen Erwartungen an eine Führungsmacht, wenn es die allgemeinen Menschenrechte zur inneren Angelegenheit umdeutet und sich "Einmischung von außen" verbittet.

Wofür also sterben die Menschen im Donbass und darüber hinaus? Was ist es, das über diese übermenschlichen Irrtümer hinweg ihrem Tod einen Sinn zu geben vermag, den Preis des Lebens rechtfertigt, sie in den Herzen der Nachgeborenen weiterleben lässt?

Der erste Grund ist das Ringen um Respekt. Jeder, dessen Leben in dieser Tragödie erlischt, verdient Mitgefühl, Respekt - und mit ihm jene, die in ihm eine Liebe ihres Lebens verlieren. Hinzu treten Freiheit und das Recht auf Selbstbestimmung. Eine Freiheit, die sich ihrer individuellen und sozialen Dimension bewusst ist, versteht Geschichte nicht als Ringen um Besitzansprüche, sondern als Pflege gemeinsamer Erinnerungen, Wege, Ursprünge über Grenzen hinweg. Der gravierendste Grund besteht darin, dass wir uns angesichts von Klimawandel und Artensterben Kriege nicht mehr leisten können, die Leben, Wissen, Lebensgrundlagen, Ressourcen und Zeit verbrennen, statt sie ins Überleben der Menschheit einzubringen.

Die Gefallenen in der Ukraine werden nicht Helden sein, weil sie unter dem Fluch eines anachronistischen Ideals von Größe im Feind den Bruder verkannt haben. Vielmehr erfüllt sich in ihnen und den unglücklichen Seelen im Mittelmeer als Ersten, dass kein Weg an einer Weltgemeinschaft vorbei führt, einschließlich einer neuen Weltordnung gleichberechtigter Weltre-
gionen auf der Basis gemeinsamen Rechts. Sie sind die Ersten, welche die scheinbare Naturgesetzlichkeit von Hegemonie, Krie-
gen und Ausbeutung überwinden werden, ehe sich die Menschheit auf den Weg ins All aufmacht, den sie heute schon vorbereitet.

Es ist Zeit. Zeit, den Krieg zu beenden. Zeit für Dialog. Zeit, als Vereinte Nationen zu neuem Miteinander zu finden.